Das Erbstueck
aufgerissenem Hals.
»Die leeren Flaschen lassen sich dann noch als Blumenvasen verwenden«, sagte Lotte.
Mutter lächelte und kaute mit offenem Mund. Ihre Ohrringe baumelten. Sie sorgte dafür, dass Stian genug auf dem Teller hatte, dass er keine rohen Zwiebeln essen musste, weil ihm davon die Nase brannte. Sie sagte, sie freue sich schon darauf, nachher zum Haus zu gehen. Lotte fand, wir könnten dort schlafen, wo sie selber so wenig Platz hatten. Sie hatte die Betten für uns bezogen und im Badezimmer geputzt.
»Dass wir nachts jetzt endlich schlafen können«, sagte Lotte. »Dass Ib nicht im Schlafanzug aufs Fahrrad springen muss, weil ihr das Feuerzeug unters Bett gefallen ist oder weil sie ihre Brille nicht findet, obwohl sie sie vor der Stirn sitzen hat, oder weil sie glaubt, dass im Garten ein Mörder lauert.«
»Ein Mörder?«, fragte Stian.
»Nicht wirklich«, sagte ich.
Großmutters Haus lag nur zwei Blocks weiter. Mutter schien die Vorstellung, nach all den Jahren wieder dort schlafen zu sollen, weiter nichts auszumachen. Sie leerte ihr Rotweinglas und hatte rosa Flecken oben auf den Wangen. Ihre grauen Augen wurden kohlschwarz. Sie war blond und schön. Sie sagte, sie fühle sich so frei.
»Ja, was glaubst du denn, wie wir uns fühlen?«, fragte Ib und lachte schrill. »Wo wir sie doch die ganze Zeit am Hals hatten!«
»Ach«, sagte Mutter, ein Ach, in dem sich Anerkennung für die geleistete Arbeit und eine gute Portion schlechtes Gewissen verbargen, das sie ihnen voller Großzügigkeit zeigen wollte.
Stian lächelte und aß und wich meinem Blick aus. Er hatte offenbar beschlossen, die Laune der Menschen nachzuahmen, die ihm am nächsten standen. Er war zu klein, um zu begreifen, dass er mir gehörte, nur mir. Vor einigen Tagen war ich Nr. 3 gewesen, jetzt war ich Nr. 2. Die Zeit rückte mir auf die Pelle. Das, was im Norwegischen »føflekk« heißt, also Geburtsfleck, heißt auf Dänisch »modermӕrke«, Muttermal. Bei diesem Begriff wird die Frau enger mit der Geburt in Verbindung gebracht. Auf Norwegisch wird dieser Zusammenhang zu einer Selbstverständlichkeit, die Mutter hat ein Kind mit einem Flecken geboren. Ich aß Fleisch und trank Rotwein und kostete das Ritual hinter der Mahlzeit aus und dachte, dass Familien wie Staaten sind, mit einer politischen Leitung und Hierarchien, und dass es Gefühle gibt, zu denen man verpflichtet sein müsste. Aber was hilft es, solange man die Gefühle nicht aus den Leuten herausschütteln kann, wie Münzen aus einer Spardose. Meine Großmutter hatte immer zu meiner Mutter gesagt: »Geh weg, von dir will doch niemand etwas wissen.«
Es war schon dunkel, als wir satt und leicht beschwipst an den Hecken entlang zu Großmutters Haus wanderten. Es war eine europäische Dunkelheit mit dem Geruch von Straßenstaub und Hausgärten, in denen welkes Laub und Zweige in Öltonnen verbrannt wurden. Ib hatte noch eine Flasche Rotwein mitgenommen. Er schwenkte sie vor und zurück und ging mit fröhlichen, jugendlichen Schritten. Ich fürchtete schon, er könnte die Flasche irgendwo zerbrechen, an einem Straßenschild oder einem offenen Gartentor.
Stian war müde, er hing fast mit seinem ganzen Gewicht an meiner Hand. Zottige Disteln und rot glühender Mohn lugten unten aus den Hecken hervor. Streunende Katzen liefen vor uns über die Straße, eine Straße, die ganz anders aussah als eine norwegische. Der Asphalt war heller und löchriger, und die Bürgersteige waren mit Platten belegt. Die Gartenzäune waren aus Metall, nicht aus Holz. Die Grundstücke waren platt und viereckig, die Häuser aus Stein. Die Häuser waren auch kleiner als die norwegischen, sahen nach mehr aus, mit der Veranda vorn, und sie verschwanden fast zwischen den vielen Hecken und Bäumen. Ib schwenkte die Flasche und erzählte von Omas Nachbar, der auf seiner Seite nie die Hecke schneiden wollte, worauf Oma von der Gemeinde Hilfe geholt und sich vor zwei Jahren mit dem Nachbarn auf ewig verfeindet hatte. Die Ewigkeit hatte für Oma also zwei Jahre gedauert. Ib hatte auf Omas Seite geschnitten, gewissenhaft, wie alle Dänen sind, oder wie sie es sein sollten. Die dänische Hecke ist ebenso heilig wie die heimischen vier Wände. Eine Hecke, die nicht auf beiden Seiten beschnitten wird, ist eine vernachlässigte Hecke, die in sich zusammenbrechen wird. Es kann an die zwanzig Jahre dauern, bis eine neue herangewachsen ist. Ich frage Ib, womit der Nachbar sich entschuldigt hatte, aber das
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