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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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Geschenke vertieft. So wie jetzt: Mit sanften Händen und konzentriertem Blick fügte er die Legosteine auf dem Klapptisch zu einem Flugzeug zusammen. Er schwenkte es in der Luft und produzierte Flugzeuggeräusche, während Mutter abermals von der bevorstehenden Zigarette schwärmte. Kaffee zu trinken und mit Marmelade gefüllte
Muffins zu verzehren, ohne den Geschmack danach mit einer Zigarette abzurunden, habe doch keinen Sinn, sagte sie, dann bekomme man nicht das, wofür man bezahlt habe.

    Meer und Luft nahmen ein Ende, wurden zu plattem Land. Nordseeland, dann Amager und Kastrup. Die Räder setzten auf. Der plötzliche Luftwiderstand sorgte dafür, dass der Flugzeugrumpf sich ruckhaft bewegte.
    »Kann man einfach Ib heißen?«, fragte Stian.
    »In Dänemark heißen viele so«, sagte Mutter. »Und Frauen heißen Iben.«
    Ich befestigte den Anstecker an seiner Windjacke und streichelte seine Haare und seine Wangen. Mutter fügte hinzu: »Auch Norwegerinnen heißen Iben, aber kein Norweger heißt Ib, ich kenne jedenfalls keinen. Aber in Norwegen heißen Männer Inge, und in Dänemark ist das ein Frauenname, und Kari ist in Norwegen ein Frauenname, aber in Finnland heißen nur Männer so.«
    »Ich kenne aber sonst keine, die Ruby heißt«, sagte Stian.
    »Wenn wir nach Dänemark kommen, heiße ich Ruuubi, nicht Rübi, wie zu Hause, Schätzchen. Ist das nicht witzig?«
    Ich betrachtete ihr Profil. Es war straff und hoch erhoben. Nur ein wenig lockere Haut am Kinn verriet ihr Alter. Ihre Ohrringe hüpften im Takt mit dem Rucken des Flugzeugs. Stian schaute sie ebenfalls an, sagte aber nichts.
    »Wir haben für Onkel Ib und Tante Lotte Ziegenkäse dabei«, sagte ich und strich ihm noch einmal über die Haare, er wich meiner Hand aus und machte Flugzeuggeräusche. »Der ist in Dänemark sehr teuer, und sie essen gern Ziegenkäse«, erklärte ich dann.
    »Ist Dänemark Ausland?«
    »Ja, das ist es.«
    »Aber wir verstehen, was sie sagen. Die Wörter«, sagte Stian.
    »Vielleicht nicht alle«, sagte ich.
    »Ich hab Ohrenschmerzen«, sagte er.

    Oma habe bei ihrem Tod nur vierundvierzig Kilo gewogen, hatte Ib Mutter am Telefon erzählt.
    Mutter, Ib und Lotte standen mitten in der Ankunftshalle, tauschten Umarmungen und schauten einander tief in die glücklichen Augen. Sie schienen zu tanzen. Ich dachte an die vierundvierzig Kilo, die für sie so wichtig geworden waren, denn jetzt handelte es sich dabei um eine tote Masse ohne Blutkreislauf. Vierundvierzig Kilo biologisches Material, fast achtzig Jahre alt. Sie umarmten einander und bewegten sich im Kreis, ohne gleich miteinander zu reden. Es sah aus wie eine Art Reigen. Ich stand mit Stian an der Hand daneben und fragte mich, wie die vierundvierzig Kilo in diesem Moment wohl aussahen.
    Stian stand mitten im Chaos aus Willkommensgrüßen und Gepäck, Blumen, dänischen Papierfähnchen, Lachen, Liebkosungen, Menschen, die aufeinander zustürzten, anderen, die ganz allein dastanden und das Laufband anstarrten, das sich noch nicht in Bewegung gesetzt hatte. Hinter den großen Fenstern wartete Kopenhagen.
    Ib riss sich als Erster los und streckte die Arme nach ihm aus. Stian drückte sich an mich und vergrub sein Gesicht in meiner Jackentasche, doch Ib hob ihn hoch und schwenkte ihn durch die Luft.
    »Ich bin Onkel Ib!«, rief er. »Dein Onkel Ib!«
    Lotte kam langsam die wenigen Meter, die uns trennten, auf mich zu. Sie tanzte noch immer, wollte mich auffordern, legte die Arme um mich und schwenkte mich hin und her, wie in einer Wiege. Sie sagte immer wieder, wie sehr sie sich freue, mich zu sehen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihr Gesicht war weiß. In ihren Haaren leuchteten graue Streifen. Ich versuchte, eine alltägliche Bemerkung zu machen, konnte zum Glück aber darauf verzichten, denn da rief Mutter, dass das Gepäck unterwegs sei.

    Lotte hatte den Tisch mit Blumen aus dem Garten dekoriert. Nicht mit weißen Beerdigungsnelken, sondern mit Astern und blühendem Bambus. Alle Bambuspflanzen auf der ganzen Welt blühen gleichzeitig auf dem ganzen Erdball, und das offenbar nur alle hundert Jahre, und jetzt blühten sie. Sie boten keinen sündhaft schönen Anblick, aber sie standen in ihrer Vase als ein aufeinander abgestimmtes biologisches Phänomen, das wir bewunderten und bestaunten. Wir aßen dänisches Fleisch in unversehrter und zermahlener und geräucherter und gekochter und marinierter Form und tranken kalifornischen Rotwein aus Karaffen mit weit

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