Das Erlkönig-Manöver
als ich dich nicht kannte, aber als dein Freund kann ich nicht länger schweigen.«
Zahllose Tränen rollten nun Kleists Wangen hinunter. »Du nimmst ihn in Schutz.«
»Nicht ihn , dich nehme ich in Schutz, dich, Heinrich, dich vor dir selbst! Schau dich nur an, du blutumtriefte Graungestalt.«
Kleist sah an sich selbst hinab. Noch immer klebte das trockene Hasenblut an seinen Händen und nun auch in seinem Antlitz, dort, wo er es berührt hatte. Jetzt dämmerte ihm das Ausmaß seiner ungeheuren Tat, und er fiel zu Boden wie ein Sack Mehl.
»Du sprichst wahr«, klagte er, der Körper bebend unter Schluchzern, und als er das Gesicht ganz in den Händen verborgen hatte, sagte er: »Mein Antlitz speit ja Flammen! Mein Geist schwankt an des Wahnsinns grausem Hang umher. Ich bin der Ärmste noch der Menschen. Es ist – als ginge ein verqueres Glockenspiel mir im Gehirn. Allbarmherziger – ich werde wahnsinnig.«
Nun setzte sich Humboldt zu ihm ins Gras, legte eine Hand auf Kleists Schulter und sagte sanft: »Ich helfe dir, wenn du mich lässt.«
Kleist schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen ist.«
Humboldt ließ seinen Freund weinen. Seine Hand ruh te tröstend auf dessen Schulter. Als Kleist keine Tränen mehr zu weinen hatte, strich ihm Humboldt die Haarsträhnen aus der Stirn. Kleist blickte auf und lächelte aus roten Augen. Mit dem Handrücken fuhr Humboldt über die geschlagene Wange. Kleist ließ seine Hände sinken. Dann beugte sich Humboldt nach vorn, um ihm einen brüderlichen Kuss zur Linderung der Schmerzen auf die Haut zu setzen. Kleist schloss die Augen. Aber als sich Humboldt wieder löste, folgte ihm Kleist in der Bewegung und setzte seine Lippen auf die des anderen. Humboldt tat nichts.
Erst als sich Kleists Hände an seinen Hals und um seinen Nacken legten, erwiderte er den Kuss. Küssend sanken die beiden ins Gras und klaubten mit den Händen nach Kleidern und Körper, um den anderen noch näher bei sich zu wissen. Kleist rang nach Atem, und er glaubte die Besinnung verlieren zu müssen, und als er unter Humboldt lag, dessen herrliches Antlitz gegen den Himmel über sich, den Blick noch immer durch Tränen verschleiert, flüsterte er: »Durch alle meine Sinne bin ich dir mit Liebe zugetan, unsäglich, ewig«, und er küsste ihm die Haare und den Hals und hätte ihn am liebsten gebissen, so sehr begehrte er ihn. »Mein jugendliches Herz ist vom giftigsten der Pfeile Amors getroffen, so liebe ich dich über alles, und ich bin gewillt, mein ganzes Leben in deiner Blicke Fesseln zu verflattern.«
Er wollte noch mehr Herzensergießungen von sich geben, aber sprechen und küssen zugleich, das ging nicht, und deshalb schwieg er und ließ seine Küsse sprechen.
Die Unstimmigkeiten in der Gruppe, die über die letzten Tage gewachsen und in der Morddrohung Kleists gegipfelt waren, veranlassten Goethe und Schiller, noch am selben Tag ein Plenum einzuberufen, in dem die künftigen Schritte besprochen werden sollten. Bis auf Kleist, der sich durch Humboldt entschuldigen ließ, waren alle Gefährten anwesend. Goethe fasste zusammen, dass seit ihrem Eintreffen im Kyffhäusergebirge zwei und eine halbe Woche vergangen waren und dass man wohl davon ausgehen konnte, dass weder Capitaine Santing noch der Herzog von Weimar sie hier finden würden. Er, Goethe, wolle keinen Tag länger als nötig an diesem Ort verbringen und schob höflich andere Gründe vor als die offensichtlichen wie etwa das entsetzliche Wetter und die all gemeine Unbehaglichkeit und natürlich Schillers zerrütte te Gesundheit. Da die Mehrheit sich aber noch immer gegen einen gemeinsamen, ungeschützten Aufbruch aussprach, kam man darin überein, am kommenden Tag einen aus der Gruppe mit der Bitte um einem Geleitschutz zu Herzog Carl August zu schicken, um in dessen Obhut den Kyffhäuser ohne Angst vor den Bonapartisten verlassen zu können. Wie so oft zuvor fiel die Wahl dabei auf Humboldt, der von allen als der Schnellste und Verlässlichste galt. Die Plötzlichkeit, mit der ihr Aufenthalt in den Bergen nach zahlreichen Tagen des Wartens beendet sein sollte, erschreckte die Gefährten.
Ein freudloses Abendmahl, zu dem sich auch Kleist wieder gesellte, schloss sich an die Zusammenkunft an. Vor aller Augen und Ohren tat Kleist Abbitte vor Goethe für seine Forderung zum Duell und entschuldigte sich damit, dass er zu oft handele, bevor er zu Ende gedacht habe, und dass die Wildnis, in der
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