Das Erlkönig-Manöver
unmittelbar vor ihnen zwei französische Soldaten standen. Bettine tat überrascht. Arnim war es.
»Bonjour«, sagte der ältere der Franzosen mit einem Lachen. »Hat es keinen bequemeren Platz in Mayence für euer Rendezvous als eine harte Bank auf einem Leichhof?«
»Pardon, Messieurs«, erwiderte Bettine leise, das Gesicht schamvoll abgewandt, »aber zu meiner Muhme können wir nicht, denn sie bewacht mich ärger als ein Kettenhund. Und in einer Wirtschaft, das wäre nicht schicklich.«
»Muss das schön sein, die junge Liebe im kalten Winter. Und wir dachten schon, ihr wärt englische Spione, wie ihr so lange dort sitzt und fortwährend aufs Palais Impérial starrt!«
»Nein, Messieurs. Wir sind nur Liebende. Gelt, Ludwig?«
Arnim nickte und ergriff ihre Hand.
»Und was ist dann das?«, fragte der zweite Soldat mit ernster Stimme. »Ein Liebesbrief?« Er hob das Papier mit den Notizen auf, das während des Kusses von Arnims Schoß zu Boden gefallen war, und entfaltete es. Bettine entfuhr ein Schreckenslaut, aber Arnim drückte ihre Hand so fest, dass sie ihn erstickte.
Indes hatte auch der Soldat seine liebe Mühe, Arnims Klaue zu entziffern. »Lies vor«, sagte sein Kumpan.
»Seit ich dich in steter Nähe«,
begann der Soldat auf Deutsch mit starkem Akzent,
»mich wie deinen Schatten sehe,
ach wie anders Gegenwart,
Stunden wie von andrer Art.
Keine Zukunft, nichts vergangen,
gar kein törichtes Verlangen,
und mein Zimmer eine Welt,
was ich treibe mir gefällt.
Selbst bei süßem Müßiggange
wird mir um die Zeit nicht bange;
kaum hast du mich angeblickt,
ist die Arbeit mir geglückt.«
Als das Gedicht beendet war, sahen die Soldaten einander an. »Gott segne euch, Kinder«, sagte der Altere. »Und Gott schenke deiner halsstarrigen Muhme Einsicht. Oder einen frühen und begüterten Tod.«
Der andere reichte das Papier zurück, ohne auch die Rückseite betrachtet zu haben, auf der Arnim die Wachablösungen notiert hatte. Mit einem Lebehoch auf den Kaiser verließen die beiden Soldaten den Kirchhof und kehrten zurück auf ihre Posten.
Bettine atmete auf. »Hast du das Gedicht für mich geschrieben?«
»Ja. Gefällt es dir?«
»Es hat uns den Hals gerettet.«
»Wohl, aber hat es dir auch gefallen?«
»Sehr. Unter anderen Umständen hätte ich lauthals darüber gelacht, denn es ist doch immer wieder kurios, wie die Franken klingen, wenn sie sich an unserm harten Deutsch versuchen. Man möchte meinen, die Franken hätten, als damals zu Babel die zweiundsiebzig Sprachen ausgelost wurden, verloren und müssen nun mit der kümmerlichsten von allen Sprachen auskommen.«
Darauf erwiderte Arnim nichts. Noch eine weitere Stunde harrten sie schweigend vor der Peterskirche aus. Nur einmal sprach Bettine noch, um Arnim darauf aufmerksam zu machen, wie Alexander von Humboldt, den sie erst beim zweiten Hinsehen erkannte, in seiner Uniform die Wachen passierte und im Innern des Deutschhauses verschwand.
Nachdem Humboldt sein Anliegen vorgetragen hatte, wurde er zwei Geschosse höher in ein Antichambre gebracht. Er musste nicht lange warten, bis ihn der Präfekt des Departements in höchsteigener Person in sein Bureau bat, das in einem großen, aber erstaunlich schlichten Zimmer mit Blick auf den Rhein untergebracht war. Jeanbon de Saint-André, so hieß der Mann, war ein nicht eben groß gewachsener Mann in Goethes Alter mit einer hohen Stirn und einer spitzen Nase, dessen Haut trotz der dunklen Jahreszeit braun und fleckig war. Humboldt grüßte militärisch, aber der Präfekt reichte ihm brüderlich die Hand und ließ ihm einen heißen Kaffee bringen. Während er die Papiere aus Paris überflog, die Humboldt ihm vorlegte, erkundigte sich Saint-André nach Nachrichten und Bavardagen aus der Hauptstadt. Humboldt trank Kaffee, erfand einige Geschichten und ließ dabei den Blick schweifen. Am Rande des Tischs lag eine kolorierte Karte von Europa: ein Kupferstich aus der Jahrhundertwende. Darauf befanden sich ein kleiner Pinsel und ein Glas blauer Tusche. Saint-André hatte jüngst die neuen Eroberungen Frankreichs in den Niederlanden, in Deutschland und in Italien eingezeichnet, sodass sich Frankreichs Blau nun mit den Farben der eroberten Staaten unschön mengte.
»Man kommt kaum mehr nach mit dem Pinsel«, sagte Saint-André, als er Humboldts Blick folgte. »Ich muss mir dringend eine neue Karte besorgen. Ein goldenes Zeitalter für die Kartografen, nicht wahr?«
»Wenn es so weitergeht, braucht
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