Das Erlkönig-Manöver
Muttergottes gestanden hatte, war nun verwaist.
Schließlich erreichte er ein Quartier mit grob gepflasterten Straßen und hohen, kunstlosen Häusern, deren Parterre die Sonne so selten erreichte, dass Moos auf den Steinen wuchs. Dort, zwischen Spitälern und dem Waisenhaus, war die Haftanstalt. Schiller wollte das Gebäude erst von allen Seiten besichtigen und geriet dabei nichtsahnend in die Kappelhofgasse, in der die Straßenmädchen auf ihre Kundschaft warteten, bei aller Kälte bemüht, viel von ihren Reizen zu offenbaren.
»Sieh, Mutter, sieh«, sagte eine von ihnen zu einer Matrone, die aus einem Fenster im untersten Geschoss blickte, »dort geht ein frommer Bruder! Gewiss wird er um eine Gabe flehen.«
Die alte Dirne lachte auf. »Führ ihn herein, damit wir ihn erquicken!«, sagte sie. »Er fühlt, dass er in ein Freudenhaus gekommen ist!«
Die erste zupfte Schiller nun am Habit. »Kommt, guter Mann! Die Mutter will Euch laben.«
Nun waren auch die anderen Buhlen aufmerksam geworden. Eine von ihnen sagte: »Kommt, ruht Euch aus, und geht gestärkt von dannen!«
Schiller hob sein Kruzifix, murmelte einen Protest und befreite seine Kutte aus der Hand der Dirne. Eilig schritt er davon, während das Lachen der Metzen ihm nachhallte.
Vor dem geistigen Auge stellte er sich vor, wie viel leichtfüßiger als er Goethe mit den Avancen der Huren umgegangen wäre, und das ärgerte ihn fast noch mehr als seine Sprödigkeit. Ihm war für einen Moment warm geworden, aber der Winterwind, der ihm durch die Falten seines Gewandes pfiff, hatte ihn bald wieder abgekühlt.
Als er das Gebäude einmal umrundet hatte und zum Tor des Zuchthauses gelangte, fand er eine Wache davor, aber keinen Franzosen, sondern einen Deutschen. Schiller grüßte ihn und stellte sich als Mönch vom Orden des heiligen Hieronymus vor, der auf seiner Wanderschaft halt in Mainz gemacht habe und nun wünsche, wie es sein Orden diktiere, gestrauchelten Seelen die Beichte abzunehmen und Trost aus der Schrift zu spenden – insbesondere jungen Seelen, denn bei diesen sei es umso notwendiger, sie zeitig auf den rechten Weg zu führen. Der Wärter, ein hohläugiger Bursche, dem der erste Flaum auf der Lippe spross, zeigte sich beeindruckt vom Anliegen des Mönchs und versprach in schwerer Mainzer Mundart, mit dem Direktor der Anstalt darüber zu sprechen. Dann aber nahm er die unerhoffte Visite eines Geistlichen als willkommenen Anlass, von seinen eigenen Nöten zu sprechen; namentlich von unglücklicher Liebe und fleischlichen Gelüsten. Schiller hörte geduldig die Leiden des jungen Wärters an und gab Trost und Ratschlag, der auf fruchtbaren Boden fiel. Er kündigte hernach an, am Abend des nächsten Tages wiederzukehren, in der Hoffnung, dann auch bei den Gefangenen Seelsor ge leisten zu dürfen, und mit einem vernuschelten Segensspruch nahm er Abschied von dem Burschen.
Damit sah er seine Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit erfüllt: Entweder ließ man ihn am nächsten Tag in die Zelle des Dauphins selbst ein, und er konnte ihn während der falschen Beichte von ihrem Plan in Kenntnis setzen, oder aber er wartete in der Gasse vorm Zuchthaus, dem Wärter bereits bekannt, um dort einen kurzen Segen, der im Verborgenen die wichtigen Hinweise enthielt, über den Gefangenen zu sprechen, bevor man ihn in die Präfektur brachte. Durch die kleinen Gassen im Schatten der Rheinmauer kehrte Schiller zurück zu ihrem Stützpunkt in der verlassenen Kirche, gerade noch rechtzeitig, die Rücken von Arnim und Bettine zu sehen, die sich ihrerseits auf den Weg zum Deutschhaus machten.
Nur drei Gassen entfernt von der Karmeliterkirche, zwischen dem Zeughaus und der Kirche des Kurfürstlichen Schlosses, lag die ehemalige Komtur des Deutschordens, ein hübsches dreistöckiges Palais, gewaltsam von allen Insignien der alten Zeit bereinigt. Hier hatte der Hochmeister dieses Ritterordens seinen Amtssitz gehabt, hier hatte das Parlament der kurzlebigen Mainzer Republik Herberge gefunden und danach hochrangige Militärs, je nach Kriegslage französische oder alliierte, jetzt war es Sitz der Präfektur des Departements Donnersberg geworden – und mit Napoleons Logis im Vendémiaire des vorigen Jahres auch Palais Impérial, der Palast des Kaisers in seiner neuen Residenz am Rhein. Über dem Portal hing die Flagge mit dem kaiserlichen Adler, in seinen Klauen ein Bündel Blitze. Rechts und links begrenzten zwei kleine Nebengebäude den Hof des Deutschhauses; dahinter lag nur
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