Das Erlkönig-Manöver
der Gefährten, der eine tröstende Hand auf die Schulter des Dauphins legte, bis sich dessen Sentiment wieder beruhigt hatte. Die anderen tranken ihren Kaffee, gleichermaßen bewegt und betreten von dieser unbeholfenen Danksagung des jungen Mannes, der, wie er vor ihnen stand – in zu großen, einfachen Kleidern, das Antlitz unrasiert –, vielmehr einem Knecht als einem König glich. Bettine reichte dem Dauphin ein Tuch, seine Tränen zu trocknen. Als dies getan war, machte jener die Runde, noch immer aufgewühlt, und gab jedem, auch dem Kutscher, die Hand zum Dank.
Nach der kurzen Stärkung bat Goethe Arnim auf den Kutschbock und den Dauphin und Schiller zu sich in die Berline, derweil die anderen wieder auf die Pferde stiegen. Bei Okriftel setzten sie über den Main, um dann durch die Forste von Isenburg und Rodgau Frankfurt in großem A bstand zu umfahren und den Main bei Seligenstadt erneut zu überqueren und um schlussendlich in den Bergen des Spessarts ihre Verfolger – gesetzt den Fall, es gäbe solche – endgültig zu verlieren. Die reichlichen Stunden ihrer Fahrt nutzte Goethe, Louis-Charles in jedes Detail ihrer Mission einzuweihen und die Identitäten ihrer Auftraggeber und deren Unterstützer offenzulegen. Louis-Charles kannte weder Baron de Versay noch William Stanley, aber Sophie Botta war ihm ein Begriff. Goethe erklärte, dass der Dauphin in Eisenach in die Obhut von Sir William übergeben werden sollte, um dann im preußischen oder russischen Exil seine Restauration auf den französischen Thron und die Vernichtung Napoleons zu planen. Louis-Charles gab sich die allergrößte Mühe, bei Goethes Erzählung nicht den Faden zu verlieren, aber mit klugen Zwischenfragen bewies er, dass er alles begriffen hatte.
»Nur um eines möchte ich Euer Hoheit bitten«, sagte Goethe. »Sprechen Sie vor unsern Gefährten nicht von Euer Hoheit Rückkehr nach Paris. Ihre Aufgabe war al lein Euer Hoheit Befreiung, und diese haben sie vorbildlich erfüllt – aber wir wollen sie nicht mit weiteren politi schen Verwicklungen durcheinanderbringen. Denn was nach Eisenach passiert, ist ganz die Angelegenheit anderer.«
Der Prinz nickte. Goethe nahm eine silberne Taschenuhr aus seiner Weste. »Es geht gegen zehn. Wenn Euer Hoheit noch etwas Schlaf nötig haben, können Euer Hoheit ihn gerne auf dieser Bank nachholen.«
Schiller räusperte sich. »Vielleicht sollten wir uns in den Tagen bis Eisenach abgewöhnen, Seine Hoheit mit ›Euer Hoheit‹ anzureden, wenn wir in den Poststationen und Herbergen nicht unnötig auf uns aufmerksam machen möchten.«
»Dann nennen Sie mich Louis-Charles «, sagte der Dauphin, »oder, besser noch, nur Louis .«
»Selbst das gibt noch zu viel preis.«
»Und Charles ? Oder Karl ?«
»Besser.«
Goethe schaute von seiner Uhr auf. »Karl Wilhelm Naundorff.«
»Pardon?«
Mit dem Nagel seines Zeigefingers schlug Goethe auf die Rückseite seiner Taschenuhr. Dort standen folgende Lettern zierlich graviert: K. W. N AUNDORFF . W EIMAR .
»Karl Wilhelm Naundorff«, wiederholte Goethe, »Uhrmacher zu Weimar. Der echte Naundorff ist vermut lich längst tot, er wird sich also nicht über diesen Na mensraub beklagen.«
Mit diesem Pseudonym zeigte sich Louis-Charles mehr als zufrieden. Er sprach seinen neuen Namen noch eine Weile lautlos vor sich hin und wurde darüber so müde, dass sein Kopf bald gegen die Scheibe sank und er mehr als zwei Stunden schlief.
In M…, einem unbedeutenden Weiler im oberen Spessart, fanden sie, abseits der Hauptstraßen, eine Herberge, die ihnen für die Nacht Obdach bieten sollte. Es war ein langes, niedriges Haus, an das sich hier ein Stall und dort ein umzäunter Verschlag für die Hühner anschlossen. Ringsum war dichter Wald, sodass, obwohl die sieben bereits am Nachmittag eintrafen, die Sonne schon nicht mehr über die Wipfel der Fichten und Buchen ragte. Selbst etwelche Haufen alten Schnees lagen noch, unberührt vom Licht der Sonne, schmutzig und blatternarbig am Fuß der riesenhaften Bäume. Umso kurioser erschien es da, dass der Name des Gasthauses ausgerechnet Zur Sonne war. Sogleich trat auch der Wirt vor die Tür – eine rundliche, stattliche Figur mit einer Art Kohlhaupt, dem Augen und Mund eingeschnitten zu sein schienen – und wenig später auch sein Weib, um die unverhoffte und zahlreiche Kundschaft willkommen zu heißen. Die Tochter des Hauses half Boris beim Ausschirren der Pferde, indes die anderen Wirt und Wirtin in die Stube folgten.
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