Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
Vom Netzwerk:
die Freiheit! Es lebe der Wein.«
    Die anderen wiederholten Goethes Spruch und tranken. Der Niersteiner mundete ungeachtet aller Fragen der Herkunft vorzüglich. Schnell waren eine zweite und eine dritte Flasche entkorkt. Den nächsten Trinkspruch gab Schiller aus auf Bettine, »die löwenherzige Jungfrau von Mainz«, und diese wiederum erhob ihr Glas »wider die Philister und die bleierne Zeit«. Als der Suppentopf geleert war, tischte die Wirtin weiße Rüben und einen Lammbraten auf, und die Schlemmerei nahm ihren Lauf. Die Gefährten ließen es nicht an Komplimenten für die Köchin mangeln, denn am Bankett des Pontifex hätte es ihnen nicht besser schmecken können als hier. Scherze und Aperçus flogen zwischen den Bissen hin und her, und dank der warmherzigen Gesellschaft und des Weines fasste bald auch Louis-Charles vollkommenes Zutrauen und wurde redseliger. Das Besteck und die Teller mit den Lammknochen wurden vom Sonnenwirt fortgeräumt, und zum Abschluss brachte die Hausherrin gebackene Äpfel mit Honig. So mancher Gürtel wurde gelöst, um auch diesem Dessert noch Platz zu verschaffen.
    Nach dem Mahl verlangte Goethe nach einem Branntwein zur bessren Digestion, und der Wirt schenkte aus dem Krug eine Runde der heimischen Wildsau in kleinen Zinnbechern aus. Gleichzeitig stürzten die sieben ihre Becher. Louis-Charles musste husten.
    »Ah, das schmeckt, das brennt ein!«, pries Schiller mit tränenden Augen. »Ein halbes Dutzend guter Freunde um einen kleinen Tisch, ein königliches Mahl, ein Gläschen Branntwein und ein vernünftiges Gespräch – so lieb ich’s!«
    Schiller nahm seine Pfeife hervor und teilte mit Kleist seinen Dreikönigstabak, und bald stiegen blaue Knasterwolken auf zu den Würsten und Gewürzen ins Gebälk der Stube. Ein stummer Seufzer der Behaglichkeit ging durch den Raum, und für einen langen Moment sprach man kein Wort, sondern lauschte dem Knistern des Ofenfeuers und dem Klipp-Klapp von Katharinas Schere.
    »Werter Karl«, sagte Bettine dann zum Dauphin, der ihr gegenübersaß, »im Jahre 95 erreichte uns aus Paris die Zeitung Ihres Todes, und ein Aufschrei der Anteilnahme ging durch Fritzlar, den Ort, in dem ich damals lebte. Ich weiß noch, dass ich mit meinen zehn Jahren – denn Sie sind nur eine Woche älter als ich – um Sie wein te und ein Gebet für Ihre Seele sprach. Und nun, zehn Jahre später, sitzen Sie aber leibhaftig und guter Gesundheit vor mir. Dürfen und wollen Sie uns berichten, wie es da zu kommt? Denn ich brenne darauf und bin sicherlich nicht die Einzige hier, diese Geschichte zu hören.«
    Louis-Charles schaute zu seinem Nachbarn Goethe, der die Hände über dem gefüllten Bauch gefaltet hatte. Goethe nickte. »Wenn Ihre Erzählung keine alten Wun den aufreißt, wäre auch ich sehr daran interessiert.«
    Also entführte sie der Sohn des Bourbonenkönigs ins revolutionäre Paris, während sich das Licht der Kerzen in ihren Weinkelchen spiegelte und draußen ein kalter Wind um das Wirtshaus blies.

    D IE E RZÄHLUNG DES L OUIS -C HARLES DE B OURBON

    »Ihr Mut und Ihre Opferbereitschaft berechtigten Sie zweifelsohne, meine Geschichte in ihrer Gänze zu hören. Nur wenige Menschen haben erfahren, was Sie nun erfahren werden, und nur eine Handvoll davon haben die letzten Jahre des Blutes und der Tränen überlebt. Wenn ich mit meiner Erzählung anhebe, tue ich dies, Ihr Ehrenwort vorausgesetzt, dass Sie kein Detail davon weitergeben – dies erbitte ich nicht nur, um meine Vertrauten und Helfer vor Gefahren zu bewahren, sondern auch Sie selbst, die Sie ab heute zum kleinen Kreise der Mitwisser um die Entführung des Dauphins aus dem Pariser Temple gehören werden.
    Ich werde Sie nicht mit den Schilderungen der Jahre ennuyieren, in denen der Sturm in Frankreich aufzog – ein Sturm, den meine Eltern anfangs in aller Arglosigkeit als eine bloße Bö abtaten, der sie aber letzten Endes vernichten sollte und mit ihnen das Frankreich, für das sie standen. Denn davon wissen Sie vermutlich mehr als ich, der ich bei der Eroberung der Bastille im Jahre 1789 erst ein vierjähriger Bub war. Das erste Ereignis, an das ich mich erinnern kann, war der Tod meines älteren Bruders einen Monat zuvor – nicht etwa, weil ich um Louis-Joseph trauerte, denn dafür war ich noch zu jung, und auch nicht, weil ich nun statt seiner künftiger Erbe des Throns meines Vaters wurde – sondern schlicht deshalb, weil Moufflet, das Hündchen meines Bruders, nun in meinen Besitz kam und

Weitere Kostenlose Bücher