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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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hatte sich zu ihnen umgedreht. Ohne mit seinem wilden Gefuchtel aufzuhören, stieß er unverständliche Worte aus.
    »Gib dir keine Mühe«, rief Burle, »versuch erst gar nicht, ihn zu verstehen! Er reißt den Mund auf, aber mit uns redet der nicht; der streitet mit dem Teufel! Wenn der seinen schwarzen, zahnlosen Mund vor uns aufmacht, bringen wir uns hier alle in Sicherheit! Schau ihn bloß nicht an!«
    Aber er sprach ins Leere. Séraphin hatte sich schon in Bewegung gesetzt, mit diesem eindrucksvollen Gang, der immer gleichförmig blieb und ständig irgend etwas zu zertreten schien. Er ging Zorme hinterher, der schon über hundert Meter entfernt war.
    Burle wollte ihn zurückrufen, doch mit einem Mal fuhr ihm eine tödliche Kälte bis ins Mark, und er sah das Tal vor sich, auf das er vor Schreck über die Begegnung mit dem Zorme noch gar nicht hatte achten können.
    »Mein Weinberg«, stöhnte er.
    In ihm stieg das Bild seines Weinbergs auf, wie er da unter den weißen Hochzeitsschleiern lag, die sich weithin über die abgerissenen Blätter breiteten. Über den begrabenen Obstgärten lag andächtige Stille wie über einem neu errichteten Grabmal.
    Mit Ausnahme des Rinnsals, das sich zwischen den Furten hindurchschlängelte, war das Flußbett der Durance weiß wie an einem Wintermorgen. Zu Füßen des völlig erstarrten Burle, der langsam begann, das Ausmaß der Zerstörung zu begreifen, lag ein Käuzchen, das, nachdem es aus dem schützenden Gehölz aufgeflogen war, erschlagen im Hof der Fuhrhalterei liegengeblieben war. Über dem zur Hälfte im Eis eingebetteten Körper ragte eine Schwinge wie der Arm eines Ertrinkenden zum Himmel.
    Über dieses grüne Schlachtfeld, dem der Geruch austretender Pflanzensäfte entströmte, hatte sich unvermittelt ein Abend voll tiefen Friedens gebreitet. Man hätte diesem auf einmal so reinen Himmel all das Unheil nicht zugetraut, das aus ihm über das Tal hereingebrochen war.
    »Séraphin!« schrie Burle.
    Er wollte augenblicklich jemanden zum Zeugen seiner Verzweiflung aufrufen; einige unmißverständliche Worte über die Güte Gottes ausstoßen, aber in Gegenwart eines anderen, nicht einfach ins Leere. Aber Séraphin war verschwunden. Selbst seine Fußspuren waren nicht mehr zu erkennen, ebensowenig wie die des Zorme; denn aus demselben Himmel, der noch vor fünf Minuten eisige Kälte über das Land gebreitet hatte, wehte nun ein warmer Wind, und der Sommer nahm das Tal wieder in Besitz. Das Eis schmolz so schnell, daß man seinen Rückzug hören konnte. Das gluckernde Schmelzwasser bildete Rinnsale, die alle Löcher füllten und sich zu schlammigen Bächlein vereinigten. Die Durance begann schneller zu fließen.
    »Séraphin! Wo treibt er sich bloß rum, dieser Hampelmann?« Burle begann zu rennen. Im Vorbeigehen packte er das Käuzchen am Flügel, um es am Abend seinem Enkel zu zeigen, der nicht an die Bosheit der Natur und an die Hinfälligkeit alles Lebendigen glauben mochte. Er rannte den mit zerfetzten grünen Zweigen übersäten Weg von La Burlière zur Straße hinab, denn er wollte die beiden Männer so schnell wie möglich einholen. Auf der Fahrbahn floß Wasser. Die Schlaglöcher, die sie vor kurzem ausgebessert hatten, waren tiefer als je zuvor. Burle zuckte entmutigt mit den Schultern. Er kam an dem Brombeergestrüpp vorbei, das unter dem Gewicht der Hagelkörner zusammengesunken war und das Bankett verdeckte, an dem sie vor dem Gewitter gearbeitet hatten.
    Dort fand er Séraphin. Er lag hingesunken auf einem kleinen Haufen scharfkantiger Schottersteine. Sein Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Am Abend sollte Burle seiner Familie erzählen: »Ich bin der einzige, der ihn je hat weinen sehen.«
    Das stimmte nicht. Der Fahrer eines Lastwagens mit Kettenantrieb kam vorbei, beugte sich aus seiner Kabine und brüllte, um den Lärm seines Fahrzeugs zu übertönen: »Was hat er denn?« Dabei wies er auf die kräftige Gestalt, die da auf dem Schotterhaufen lag.
    »Nichts«, antwortete Burle in gleicher Lautstärke, »sieh zu, daß du weiterkommst!«
    Danach kamen noch zwei Radfahrer vorbei. Grimmig und kalkweiß im Gesicht, wollten sie die Schäden in ihren Weinbergen in Augenschein nehmen. Als sie den großen Körper auf dem Steinhaufen liegen sahen, stiegen sie ab, um Hilfe zu leisten.
    »He, Burle, was hat der denn?«
    »Nichts«, sagte Burle, »der weint um seine Mutter.«
    »Seine Mutter?« riefen beide wie aus einem Mund. »Aber das ist doch der Séraphin

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