Das ermordete Haus
Monge! Dem seine Mutter ist doch seit über zwanzig Jahren tot!«
»Schon«, gab Burle düster zurück, »aber verloren hat er sie erst vor fünf Minuten.«
Sie gaben sich erst gar keine Mühe, das zu verstehen, und da es sich ohnehin nur um Tränen handelte, stiegen sie wieder auf ihre Räder.
Burle streckte die Hand aus, um sie auf Séraphins Schulter zu legen, ließ sie aber dann wieder sinken. Sein Gewissen versetzte ihm einen Riesentritt in den Hintern.
»Recht hatte er, der Zorme. Klugscheißer! Hättest du ihm nichts gesagt, dann würde er jetzt nicht flennen!«
Mit furchtsamer Fürsorge betrachtete er diesen Koloß, den ein paar Worte zu Fall zu bringen vermocht hatten. Hilfloser Zorn lähmte den alten Mann.
»Meine Mutter, meine Mutter, meine Mutter«, wimmerte Séraphin leise. Immer wilder trommelte er mit seinen kräftigen Fäusten auf den scharfkantigen Schottersteinen herum. Schmerz spürte er nicht.
2
DAS ganze Jahr 1919 lag eine trostlose Stimmung über unserer Gegend.
Auf den Ackern sah man nur Witwen in ärmlicher Trauerkleidung, deren hagere Gestalten sich kaum von den verdorrten Bäumen im Hintergrund abhoben, schwarzgekleidete Kinder, traurige Großväter mit Trauerflor an der Mütze, die erschöpft dem Pflug folgten, obgleich sie dazu in ihrem Alter eigentlich nicht mehr in der Lage waren, und die die Pferde nur mit leiser Stimme anzufeuern wagten. Wenn zufällig ein junger Mann in ihr Blickfeld geriet, betrachteten sie ihn verstohlen und mißtrauisch, als habe er ihnen etwas weggenommen und verletze mit seiner Anwesenheit die Spielregeln.
Die Gefallenen blieben den Überlebenden quälend gegenwärtig, wie schlecht heilende Wunden. Es verging keine Woche, ohne daß ein Gratistransport der Bahngesellschaft Paris- Lyon-Marseille eintraf, mit dem einer oder zwei von ihnen in die Bahnhöfe Peyruis-Les Mées oder La Brillanne-Oraison überführt wurden. Séraphin war immer dabei. Er hielt sich stets bei den alten Männern. Die jungen standen vorn: ein Bund von Überlebenden, um eine Fahne mit goldenen Fransen geschart, die ihren Anspruch auf eine Entschädigung unterstrich.
Séraphin erwartete nichts. Man hatte ihm eine Stelle als Straßenarbeiter verschafft und dazu noch ein der Gemeinde gehörendes, hohes, schmales Haus zugewiesen, dessen über drei Stockwerke führende Treppe die Hälfte des Raumes einnahm.
Er hätte nie gedacht, daß ein noch grelleres Bild die Erinnerung an den Krieg, aus dem er zurückgekommen war, in ihm würde auslöschen können. Und doch hatte er nur eine Stunde im Gewitter verbringen und dem Bericht eines alten Mannes zuhören müssen, und schon war dieses Schreckensbild einem anderen gewichen.
Drei Tage lang waren seine Hände grün und blau gewesen von den Faustschlägen, mit denen er an jenem Tag den Schotterhaufen bearbeitet hatte. Seither bedrängten ihn beim Einschlafen die Alpträume des Krieges nicht mehr. Statt dessen stieg ein eng begrenztes Bild vor seinen Augen auf: die Küche von La Burlière. Jeden Sonntag kehrte er dorthin zurück – allein – und verbrachte Stunden damit, zwischen dem Herd und dem Nußbaumtisch, zwischen der Truhe und der Wiege hin und her zu gehen. Er konnte das Bild seiner Mutter, wie sie da mit hochgeschobenen Röcken und durchtrennter Kehle vor dem Tisch gelegen hatte, nicht mehr loswerden. Sosehr er sich bei seiner Arbeit bis zur Erschöpfung verausgabte, seine Nächte blieben qualvoll. Vor allem eines versetzte ihn in Beklemmung: Seine Mutter, so deutlich sie ihm in ihrem Todeskampf vor die Augen trat, sie hatte kein Gesicht. Sosehr er sich anstrengte, er konnte ihr zu keinem Gesicht verhelfen.
Als einer der letzten starb der alte Burle innerhalb von wenigen Tagen an der Spanischen Grippe. Séraphin besuchte ihn an seinem Totenbett und bat ihn um eine Beschreibung der Züge seiner Mutter.
»Wozu soll das gut sein?« sagte Burle zu ihm. Er hatte keine Angst. Er bot den Anblick eines an den Klauen angeketteten Adlers. Es blieb ihm noch genug Kraft, um seinen Priem an den Ofen zu spucken, wo er zischend antrocknete. »Mach dir nichts draus …« fuhr er fort, »und merk dir eins: Spanische Grippe, das ist schnell dahingesagt … Ich läge bestimmt nicht hier, wenn ich dir nichts erzählt hätte. Aber das macht nichts … Es war richtig so. Und denk immer daran: Es kann nicht so passiert sein! Verstehst du? So nicht!«
Séraphin war darum bemüht – in der ersten Zeit zumindest –, ein ganz normales Leben zu führen.
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