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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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bißchen tiefer herunter. Vor allem, weil die Rose immer schwerer zu hüten war. Sie glitschte ihnen aus den Händen wie ein nasses Stück Seife. Ihre Mutter hatte ihr von dem Geld, das sie mit ihrem hausgemachten Käse verdient hatte, ein Fahrrad geschenkt. Seither war die Rose eigentlich ständig unterwegs. Man konnte nur hoffen, daß sie schon keine Dummheiten machen würde. Sie brauchte zwei Stunden, um in Lurs ein Brot einzukaufen. Wenn sie für ihre Großmutter Besorgungen in Peyruis machte, blieb sie den ganzen Nachmittag weg.
    Während nun dieses Mädchen seine Schönheit am Ufer des Lauzon auf zwei Rädern spazierenführte, schickte sich im Dorfe Lurs, zweihundert Meter über dem Tal, ein anderer Augapfel an, dem Schicksal entschlossen entgegenzugehen, ein Mädchen, dessen Schönheit weniger augenfällig war. Eigentlich war es ihre strahlende, gesunde Frische, die diese junge Frau schön erscheinen ließ. Mit ihrer unbändigen Lebenskraft und ihrem entschlossenen Gang schien sie mit jeder Bewegung die Luft um sich herum wegzuschieben. Sie trug das Gesicht einer Göttin der Saaten zur Schau, das den Eindruck erweckte, man müsse es schnell bewundern, bevor es zerfloß. Vor ihr war niemand in dieser Familie schön gewesen.
    Ihr Vater, der Célestat Dormeur, war dunkel wie ein Sarazene, mager und knöchern, mit Augen von ungleicher Farbe. Seine Wangen waren hohl. Man fragte sich immer wieder, wie dieser Bäcker, der kaum sechzig Kilo wog, es fertigbrachte, mit seinen Heuschreckenärmchen Teigmassen zu kneten, die mehr wogen als er selbst. Ihre Mutter, die Clorinde Dormeur, war bleich und hochaufgeschossen wie eine Stange Lauch. Sie hatte große, nach innen gekehrte Füße, die ständig unter dem Verkaufstisch des Backwaren- und Lebensmittelladens hervorsahen und mit denen sie sich an allen umherstehenden Brotkörben stieß. »Ojemine!« rief sie jedes Mal aus, wenn sie im Hinterzimmer aus Versehen in den Spiegel blickte; denn die Blattern hatten ihre Wangen und ihr Kinn entstellt. Aber »treu wie Gold« sei sie allemal, pflegten die Leute im Dorf zu sagen. Somit erschien es allen wie ein kleines Wunder, wenn sie Marie Dormeur im Sauseschritt durch Lurs gehen sahen, von einem unwiderstehlichen Schwung angetrieben, ohne ein besonderes Ziel oder Vorhaben einfach das Leben in vollen Zügen genießend.
    Eines hatten sie gemeinsam, die Marie Dormeur und die Rose Sépulcre zu jener Zeit – sie fürchteten sich vor nichts und niemandem. Und diese Unerschrockenheit sollten sie nötig haben.
    Kurze Zeit nach Burles Tod kam Séraphin einmal nach Einbruch der Nacht nach Hause. Wie alle anderen hier schloß er seine Tür nie ab. Als er in die Küche trat, wartete dort jemand auf ihn. Ein Schattenriß zeichnete sich am Fenster vor der elektrischen Laterne ab, die den kleinen Platz vor dem Haus beleuchtete. Er hörte das leichte Rascheln eines Kleides und schnelle Schritte, die auf ihn zukamen. Eine junge Frau trat aus dem Schatten so nah vor ihn hin, daß ihre Brüste ihn unter den Rippen berührten, wenn sie tief Luft holte. Ein seltsamer Heckenrosenduft ging von ihr aus, und er konnte trotz des Gegenlichts im Halbdunkel ihr Gesicht erkennen.
    »Laß das Licht aus!« flüsterte sie. »Sonst kann man mich von draußen sehen … Mein Vater würde es gleich erfahren …«
    »Nein«, antwortete Séraphin. »Ich hab dich beim Brunnen gesehen, damals, als du aus der Kanzlei des Notars kamst und ich den Wasserkrug für meine Großmutter füllte, und seither hab ich nur noch Augen für dich …« Sie sprach hastig. Man hörte, daß sie das alles nächtelang vorher eingeübt hatte.
    »Nein«, sagte Séraphin.
    »Ich bin Rose Sépulcre. Du hast mich gesehen. Du kannst mich gar nicht übersehen haben!«
    »Nein«, sagte Séraphin.
    »Ja, ja, noch sagst du nein, aber warte erst mal!« Er fühlte, wie sie ihre Hand flach auf seinen Gürtel legte und ganz langsam über seinen Bauch fuhr. Sie streichelte ihn durch den Stoff hindurch. Er hörte sie flüstern: »Siehst du … siehst du …!« Stammelnd gaben ihre Lippen dem verhaltenen Drang nach zu sagen, was sie von ihm erhoffte.
    Séraphin kam es sonderbar vor, in der Dunkelheit dieses Raums, in dem er sich sonst allein, mit weit geöffneten Augen aufhielt, zu fühlen, wie sich sein Glied unter den Liebkosungen dieser kleinen Hand aufrichtete, und sich dabei dennoch nicht der Erinnerung an dieses dunkelrote Bild entledigen zu können, dessen Rahmen er immer überschritt, wenn die

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