Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
Finsternis ihn umhüllte. In diesem Gemälde bewegte er sich dann unter lauter gesichtslosen Gestalten – er hatte sie ja nie gesehen – und legte immer den gleichen Weg zurück. Mit der Langsamkeit eines Mannes, der nicht sicher sein konnte, ob er denn wirklich lebe, schritt er immer wieder auf die Wiege zu, in die er sich gern zurückgelegt hätte und in die doch nicht einmal die Hälfte eines seiner Beine gepaßt hätte. Doch dieses Gemälde verströmte einen Geruch, den Geruch, den der alte Burle so eindrucksvoll beschrieben hatte und der es ihm unmöglich machte, jemals wieder beim Schweineschlachten zu helfen.
    Was konnte die Rose Sépulcre allein mit den Waffen ihrer Schönheit und ihres Verlangens gegen dieses unentwirrbare Gestrüpp von gesichtslosen Leichen ausrichten, das sie wie eine Hecke von Séraphin fernhielt?
    »Nein«, sagte Séraphin, ohne die Stimme zu erheben.
    Sie fühlte, wie das Glied des jungen Mannes unter ihrer Hand erschlaffte, und zog sie schnell zurück.
    »Was heißt hier nein? Was soll denn dieses Wort, das du ständig wiederholst?«
    »Nein«, sagte Séraphin.
    Sie stieß ihn zur Seite und schlug ihm mit den Fäusten gegen die Brust mit einer Wut, die wie ein Unwetter über seine fünfundneunzig Kilo herfiel. »Laß mich vorbei«, schrie sie.
    Sie floh die Treppe hinunter, und er hörte, wie sie die Haustür heftig hinter sich zuschlug und auf der Straße davonrannte. Er öffnete das Fenster und stützte sich mit den Ellbogen auf das Fensterbrett. Das Plätschern der vier Brunnenrohre reichte nicht aus, seine Beklemmung zu lindern. Aus einem Baum ertönte der Ruf eines Käuzchens. In weiter Ferne, hinter den Pinienhügeln, auf den Wellen eines ursprungslosen Windes herangetragen, erklangen Melodiefetzen einer Drehleier, die zu einem langen verlöschenden Fest aufspielte.
    Doch das einzige Geräusch, das Séraphin zu hören vermochte, hatte Burles Erzählung ihm eingegeben: das Gurgeln des Blutes, das aus einer geöffneten Schlagader spritzt. »Mit aufgeschlitzter Kehle«, hatte er gesagt.
    Mit der Zeit war ihm klargeworden, daß die Lage des Körpers seiner Mutter auf den Fliesen – so wie sie Burle beschrieben hatte – darauf hindeutete, daß sie noch versucht hatte, zu ihm in seiner Wiege zu gelangen, während sie ihr Blut verlor.
    Lange Zeit blieb Séraphin mit aufgestützten Ellbogen an seinem Fenster. Er hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen, als hätte die Szene, die ihn nicht mehr loslassen wollte, hier vor seinen Augen stattgefunden, auf der stillen Straße von Peyruis oder auf den öden Inseln in der Durance hinter dem Deich.
    »Solange du das im Kopf hast«, sagte er sich, »wirst du nie leben können wie alle anderen.«
    Es muß wohl in jener Nacht gewesen sein, als er seinen Entschluß faßte.
    3
    »CLORINDE! He, Clorinde! Komm doch mal raus! Hör mir mal kurz zu!«
    Mit einem plötzlich aufkommenden Wind tauchte die schwarze Tricanote am Ende der Straße auf. Eingehüllt in eine Staubwolke, der sie gerade entstiegen zu sein schien, versuchte sie mit ihrem Hirtenstab, den sie wie eine Lanze trug, ihre Ziegen in den Stall zurückzutreiben. Sie standen eng aneinandergedrängt, Euter an Euter, mit hochgereckten Hörnern. Die Tricanote selbst, wie ihr der Wind so unter die Röcke fuhr, sah wie eine Schwangere aus. Ein höchst unziemlicher Eindruck bei einer Frau von vierundsiebzig Jahren, die ihrem Alter mit spitzem Hinterteil und fest auftretenden Hühnerbeinchen in strammer Haltung trotzte.
    »Clorinde, he, Clorinde!«
    Clorinde Dormeur rieb gerade die Schalen der Waage mit Polierpaste ab. Sie erschien vor dem Laden, das Tuch in der Hand.
    »Bist du verrückt, so zu brüllen! Der Célestat macht sein Schläfchen!«
    »Sag mal, Clorinde, hast du’s noch nicht gehört? Der Séraphin!«
    »Was für ein Séraphin?«
    »Na, der Séraphin Monge! Der ist plemplem! Der verbrennt seine Möbel.«
    »Was sagst du da? Der Séraphin Monge, der, der …«
    »Genau der! Der ist unten in La Burlière. Er verbrennt alles!« »Und woher willst du das wissen?«
    »Einer hat’s mir erzählt. Der ist gerade zurückgekommen. Er hat oberhalb von La Burlière auf der Lauer gelegen. Plötzlich hat er den Schornstein rauchen sehen. Da hat er getan, was wir alle in so einem Fall getan hätten: Er ist runtergeschlichen und hat heimlich durch das kleine Fenster geschielt. Du meine Güte! Stell dir vor, was er mir gesagt hat: ›Ich hab den Séraphin gesehen. Er hat versucht, den Tisch mit

Weitere Kostenlose Bücher