Das ermordete Haus
er ein Vogel wäre, der sich beim ersten Anzeichen von Gefahr unter den Brombeerstrauch flüchten konnte.
»Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen …« sagte Séraphin. »Es bleibt mir immer vor Augen. Zuerst dachte ich, es wäre der Krieg. Aber nein … Es ist viel schlimmer. Verstehst du, im Krieg, da ging es alle an. Aber das hier, das betrifft nur mich allein. Deshalb verbrenne ich alles … Wenn das alles hier nicht mehr da ist, dann ist vielleicht meine Mutter … Sie ist dann vielleicht auch weg … Da drin ist sie gestorben, meine Mutter, mit dreißig Jahren. Sie ist noch bis zu meiner Wiege gekrochen. Bis zu dieser Wiege da!« sagte er und zeigte auf das Dreirad. »Verstehst du, ich und meine Mutter, danach war da nur noch das Waisenhaus. Die Nonnen wußten nicht mehr über mich als ich selbst. Aus Vorsicht hielten sie mich von den anderen fern, als ob ich ansteckend gewesen wäre. Nach meinem Schulabschluß, als sie mich nicht mehr behalten konnten, schickten sie mich in die Nähe von Turriers. Dort forstete man den Wald wieder auf. Wir mußten Kiefern pflanzen, inmitten von Steinen, die spitz wie Dolche waren. Da war alles voll von Steinsplittern, nicht größer als so … Also mußte man, um pflanzen zu können, die Steine mit den Händen wegräumen, denn sonst wäre die Hacke einfach abgeprallt. Und alle Täler und alle Hügel waren übersät mit dem Zeug, und wir hatten nur unsere Hände …
Und dazu war ich nun unter Männern. Abends sprachen sie leise miteinander in den Baracken, und wenn ich näher kam, brach das Gespräch ab. O ja, ich hab schnell kapiert, daß irgendwas an mir nicht normal war … Es waren fast alles Piemontesen. Manchmal bekamen sie Post von ihren Müttern, dann weinten sie. Und manchmal, wenn einer vom Tod seiner Mutter erfuhr, hallte das Trauergeheul die ganze Nacht durch das Barackenlager. Sie schluchzten immer gemeinsam. Eines Tages kam ein ganz Junger zu mir – der war noch nicht lange dabei – und fragte mich: ›Und du, bekommst du nie Post von deiner Mutter?‹ Noch bevor ich antworten konnte, trat ihm schon einer so hart in den Hintern, daß er ins Stroh fiel. Sieben Jahre … Ich habe sie dort oben rumgebracht. Dort oben hat mich der Krieg aufgelesen. Ich hatte nichts gelernt. Ich wußte nichts. Ich döste vor mich hin.«
Aus seiner Tasche kramte er, was er brauchte, um sich eine Zigarette zu drehen, was er dann auch in aller Ruhe tat. Seitdem Séraphin zu erzählen begonnen hatte, wagte Marie kaum zu atmen. Aber der Damm war gebrochen. Er richtete seine Worte auch gar nicht mehr an sie. Er sprach zu dem Haus, zu dem Rauch, der aus dem Schornstein stieg, zu der Luft, die schon seine Vorfahren hier geatmet hatten und die um dieses Gebäude gestrichen war, dessen hochgelegene Vorratsräume hohl widerhallten, weil das Heu in ihnen schon seit langer Zeit zu Staub zerfallen war.
»Wir waren fünfundzwanzig in unserer Kompanie. Manchmal blieben nach einem Angriff nur noch sechs, manchmal noch drei übrig. Man sorgte immer wieder für Nachschub. Jedesmal sagte ich mir: Das nächste Mal bist du dran. Von wegen. Nie. Der einzige, den niemand vermißt hätte. Der einzige, um den niemand geweint hätte. Aber nein! Da war nichts zu machen!«
Er warf die Zigarette auf den Boden und zertrat sie mit seinen derben Schuhen.
»Da war dann noch einer, der blieb auch am Leben. Er belauerte mich. Er konnte mich nicht riechen. Einer aus Rosans, im Département Hautes-Alpes. Er kannte mich besser als ich mich selbst. Er hatte herausgefunden, was ich am meisten verheimlichte. Ich hatte keine Mutter. Er dagegen hatte eine. Sie schrieb ihm jede Woche. Er las mir die Briefe vor, ganz langsam, damit ich es auch richtig genießen konnte, und was sie ihm Liebes schrieb, das strich er besonders heraus. Und jedesmal wenn wir zum Angriff rausmußten, rief er mir zu: ›Monge! Heute trifft’s dich!‹ Noch am Tag, an dem er starb, hat er mir das zugerufen. Die Granate schlug auf seiner Seite ein. Er hat alles abgekriegt. Er fiel auf mich. Ich spürte durch seinen Mantel hindurch, daß es ihn in Stücke gerissen hatte. Seine Nerven ließen ihn zucken, als ob er noch am Leben gewesen wäre. Sein Körper bedeckte mich vollkommen. Du kannst dir nicht vorstellen, was so ein Körper an Schutz bietet. An Granatsplittern und Kugeln hat er noch so viel abgekriegt, daß er zehn Mal daran hätte sterben können. Ich hab gespürt, wie er sich wie ein Sack nach und nach entleert hat. Den Geruch seiner
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