Das ermordete Haus
warmen Eingeweide hab ich noch immer in der Nase.«
»Hör auf!« stieß Marie mit leiser Stimme hervor.
Er gehorchte ihr für wenige Augenblicke, dann fuhr er fort:
»Dieser Tag, das war für mich der Höhepunkt des ganzen Kriegs. Später kam der Tod nicht mehr so nah bei mir vorbei, ganz so, als ob er es aufgegeben hätte, mich je zu holen.«
Er verstummte. Er wandte sich Marie zu und sah ihr tief in die Augen. Aber schnell wandte er seinen Blick wieder ab, wie ein Lügner, der es nicht erträgt, den Menschen anzusehen, den er belügt. Doch bei ihm war es die Wahrheit, die er zu enthüllen im Begriff war und deren er sich schämte.
»Ich werde dir ein Geheimnis verraten«, sagte er schnell, »denn irgend jemand muß ja wenigstens ein bißchen etwas von mir verstehen, und da es dich nun mal interessiert … Also: Dem aus Rosans habe ich, gleich nachdem er tot war und ich wußte, daß ich die Erinnerung an ihn nie loswerden würde, die Brieftasche aus dem Mantel gezogen und ihm was daraus geklaut …«
Mit einer kurzen Bewegung zog er aus seiner eigenen Brieftasche, die er in die Innentasche seiner Drillichjacke gequetscht hatte, ein Stück hellbraunen Papiers und hielt es Marie hin.
»Sieh mal«, sagte er, »das hab ich ihm geklaut. Es ist ein Brief von seiner Mutter. Vielleicht lebt sie noch. Aber wenn sie ihn so sehr geliebt hat, wie sie schrieb, muß sie an seinem Tod zugrunde gegangen sein. Das war alles, was ich hatte. Die anderen, die hatten Briefe von ihrer richtigen Mutter, ihrer Freundin oder ihrer Verlobten, ich hatte das, sonst nichts.«
Marie schaute ihn an. Sie sah ihn im Profil. Er betrachtete das Haus, die Schuppen, den Rauch, der aus dem Schornstein stieg und der ein Leben vortäuschte, das es nicht mehr gab.
»Und was noch dazukommt«, sagte er mit rauher Stimme, »damals konnte ich noch glauben, sie sei gestorben, ganz einfach gestorben. Aber nein! Dazu mußte ich all das überstehen und hierher zurückkommen, um so etwas zu erfahren! Um das hier vorzufinden!« Er wies mit der Hand auf die offene Tür, durch die man die Flammen im Kamin sehen konnte. »Verstehst du jetzt: Ich bin allein! Ganz allein! Und ich kann mich nicht einmal rächen! Das haben sie schon vor mir erledigt!«
Er trommelte mit den Fäusten auf seinen Oberschenkeln herum.
Marie rutschte auf dem rauhen Steinblock zu Séraphin herüber. Sie nahm seinen Arm, hob ihn hoch und kroch unter diesen schützenden Fittich. Sie nahm seine schlaffe Hand und legte sie um eine ihrer Brüste. Aber die Hand lag einfach da, leblos und kalt. Gedankenlos zog er sie weg, als könne sie ebensowohl dort liegenbleiben. Er stand auf. Mit dem Blick maß er die Höhe der Zypresse, unter der sie saßen.
»Ich glaube einfach nicht, daß so etwas möglich ist«, sagte er. »Ich kann nicht glauben, daß hier kein Leben mehr ist. Ich …« Plötzlich verstummte er. Unvermittelt bekam sein Blick wieder die Schärfe, die er in all den Kriegsjahren gewonnen hatte. Es schien ihm, als ob das Lorbeergebüsch, das den Hof von La Burlière gegen die Fahrstraße hin abschirmte, sich leicht bewegt hätte, wie beim Durchtritt eines großen Stück Wildes. Es war eine kaum wahrnehmbare Wellenbewegung, leicht wie der Abendwind, und man mußte schon einmal beides, Jäger und gejagtes Wild, gewesen sein, um sie richtig zu deuten.
Ohne weitere Überlegung rannte Séraphin schräg auf die Gruppe von Lorbeerbüschen zu, außen herum, als handle es sich um einen Patrouillengang. Er bewegte keinen Grashalm, keinen Stein. Er erreichte die Zweige des Gebüschs, bevor Marie unter der Zypresse auch nur eine Bewegung machen konnte. Er bog die Blätter auseinander. Zu dem Geruch steifer, zertretener Blätter gesellte sich der kaum wahrnehmbare Geruch eines Mannes, der vor kurzem noch hier gewesen sein mußte. Séraphin erblickte eine große, bequeme Kuhle. Jemand hatte sich hier in den Quecken versteckt, hatte sich dort geraume Zeit aufgehalten, hatte ihn belauscht.
Schnell rannte er die Böschung hinunter auf die Straße. In beiden Richtungen war nichts zu sehen, bis auf einen Lastwagen, der mit rasselndem Kettenantrieb in die Kurve beim Kanal einbog. Von weitem hörte man die Bahnhofsglocke von Lurs, die die Ankunft eines Zuges ankündigte, aber nirgendwo war eine Menschenseele zu entdecken.
Séraphin kam mit schleppendem Schritt nach La Burlière zurück. Unter der Zypresse war alles leer, Marie und ihr Fahrrad waren verschwunden. Lange betrachtete Séraphin den Platz,
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