Das ermordete Haus
zu werfen.
Einmal kamen vier von ihnen aus Ärger über Séraphins Gleichgültigkeit sogar auf den Gedanken, ihm die Leiter wegzunehmen. Selbst mit vereinten Kräften hatten sie Mühe, sie von der Wand zu nehmen und waagrecht dagegen zu lehnen.
»Wart nur, du Schlappschwanz! Wo’s dir doch so gut gefällt, kannst du auch ganz da oben bleiben!« Sie lachten aus vollem Hals, die Hände in den Hüften, und die Sicherheit, in der sie sich wähnten, machte sie um so frecher und unverschämter. Schon bückten sie sich nach den Steinen, als der größte unter ihnen einen gewaltigen Tritt in den Hintern erhielt, der ihn gegen einen Schutthaufen taumeln ließ. Seine Peitsche wurde ihm entrissen. Er dachte, er habe es mit dem Schäfer zu tun, und ließ ein unwilliges Knurren hören. Alle vier wandten sich gleichzeitig um. Der Lederriemen schwang genau über ihren Köpfen, in geringem Abstand und mit einem Pfeifen, das sie nur allzu gut kannten. Zugleich sahen sie ihren Angreifer von vorn, und dieser Anblick ließ ihren Mut schwinden.
»Stellt die Leiter wieder auf«, sagte der Unbekannte, »oder ich schlage euch mit der Peitsche ein Auge aus.«
Sie gehorchten eilfertig. Es kostete sie einige Anstrengung, und sie schwitzten Blut und Wasser aus Angst, daß es ihnen nicht gelänge und sie die Hiebe dieses Besessenen zu spüren bekämen. Als die Leiter stand, machten sie sich geduckt davon und rannten der Herde nach, deren Geläute in der Ferne zu hören war.
Séraphin hatte alles genau beobachtet. Sobald die Leiter wieder aufrecht an die Mauer gelehnt stand, stieg er in aller Eile herunter, denn daß ein einzelner Mann vier Bauernlümmeln, die von einem grundlosen Haß berauscht waren und eben noch so bedrohlich gewirkt hatten, die Stirn bot, erschien ihm sehr gewagt.
Kaum hatte er den Fuß auf die Erde gesetzt, wandte sich der Unbekannte, der den fliehenden Hirtenjungen nachgesehen hatte, zu ihm um, und Séraphin sah, warum sie Hals über Kopf das Weite gesucht hatten. Er hatte eine gueule cassée vor sich, einen Kriegsbeschädigten. Er war aus dem Krieg mit einem jener Gesichter zurückgekommen, gegen die niemand mehr die Hand zu erheben wagte, aus Furcht, alle Kriegstoten könnten sich aus ihren Gräbern erheben, um diesen Frevel zu bestrafen. »Richtig!« sagte der Mann. »Es gibt da jetzt einen, der genau so malt. Er heißt Juan Gris … Ich würde ein geeignetes Modell für ihn abgeben.« Wenn er lachte – und er lachte oft –, wurde sein Anblick unerträglich. »Weißt du«, fuhr er fort, »zum Glück hatte ich was dran, an meinen Hinterbacken! Mit einem Stück aus der einen …« Er wollte gar nicht mehr aufhören zu lachen.
»Mit einem Stück von der einen hat man mir ein neues Kinn gebastelt! Und eine Wange! … Und stell dir vor, ich kann auch sehen … Nun ja, um richtig zu sehen, muß ich den Kopf etwas zur Seite drehen … Aber es geht schon, was soll’s! Am beschissensten ist das mit den Haaren: Beim Kämmen kommt ein Drittel auf die eine Seite, ein Drittel auf die andere, und der Rest weiß nicht so recht wohin! Oh! Fast hätte ich es vergessen! Ein Name ist mir auch geblieben: Ich heiße Patrice. Patrice Dupin.«
»Sie sind der Sohn vom alten Dupin?« fragte Séraphin.
»Leider«, seufzte Patrice, »einen Vater habe ich nun mal.«
Séraphin deutete ein verlegenes Lächeln an. »Ohne Sie müßte ich heute da oben übernachten …«
»Ohne dich«, berichtigte Patrice und betonte das »dich«.
»Ohne mich hättest du vor allem lächerlich ausgesehen. Und ich will nicht, daß du lächerlich wirkst.«
Sie musterten sich gegenseitig. Hinter dem Schreckensgesicht des einen und dem Engelsgesicht des anderen war zu erkennen, daß sie gleichaltrig waren und daß sie das gleiche Kreuz getragen hatten.
»Wie es aussteht, bist du gut davongekommen«, sagte Patrice. »Es sieht ganz so aus«, sagte Séraphin.
Sie setzten sich auf das Kapitell unter der Zypresse. Patrice hielt Séraphin sein goldenes Etui hin.
»Danke«, sagte Séraphin, »ich drehe meine selbst.« Er zog seinen Tabaksbeutel und sein Zigarettenpapier hervor. »Denkst du noch manchmal daran?« fragte der Mann.
»Woran?« erwiderte Séraphin.
»An den Krieg.«
»Nie mehr«, sagte Séraphin.
»Ach ja, natürlich, du hast schließlich andere Sorgen …«
»Kennen Sie meine Geschichte?«
»Jeder hier kennt sie.«
»Sie sind der erste, der mich nicht fragt, warum ich das tue.«
»Was denn?«
»Das da.« Séraphin wandte sich um und
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