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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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bevölkerten und ihre offenen Bücher wie Schilde vor sich hielten.
    Er ging schnell vorbei und folgte dem Ordensbruder, der vor ihm her trottete, um schließlich an einer niedrigen Pforte anzuhalten und zwischen den Falten seiner Kutte einen Schlüssel in Filigran hervorzuziehen. Séraphin hörte, wie er sich mit einem wohlklingenden Akkord im Schloß drehte. Der umfriedete Platz, den sie betraten, roch nach Erde und nach frisch freigelegtem Fels.
    »Paß auf, Kleiner! Fall mir nicht in das Grab! Denn … ohne den Absichten Unseres Herrn vorgreifen zu wollen … und weil doch Bruder Laurentius zu einer Missionsreise aufbrechen mußte, da haben wir es schon ein bißchen im voraus ausgehoben …«
    Das trügerische Mondlicht begnügte sich hier damit, einer Zypresse die Gestalt einer Säule zu verleihen, die aus einem geborstenen Kirchenschiff aufragte. Es ruhte auf verfallenen Erdhügeln, die mit Weberdisteln überwachsen waren und in denen Holzkreuze steckten, auf denen kein Name zu lesen war. Gleich Narrenkappen, die schief auf Charakterköpfen saßen und zu düster aussahen, um komisch zu wirken, verrotteten Kränze aus Buchsbaum- und Steineichenzweigen auf den Galgen ähnelnden Kreuzen. All diese Einzelheiten erschienen den prüfenden Blicken Séraphins wohl nur deshalb in diesen unwirklichen Farben, die vielleicht nur er allein wahrnehmen konnte, damit er sie nach all dem, was noch kommen würde, nie mehr vergessen sollte.
    Der Anblick dieses spärlich mit ärmlichen Gräbern bestückten Friedhofes schien ihn vor etwas warnen zu wollen. Er wollte zurück, er wollte diesen Bruder Calixtus einfach stehenlassen und sich schäbig davonstehlen. Aber der Mönch, der auf ihn achtgab wie auf einen Chorknaben, dem nicht zu trauen war, mußte seine Fluchtpläne erraten haben. Als er gerade am Ende einer kümmerlichen Allee von Zwergbuchssträuchern die Wölbung eines steinernen Bogens durchschreiten wollte, der vom Mondlicht auf der Höhe des Schlußsteins abgeschnitten wurde, drehte er sich plötzlich um. Er packte Séraphin mit festem Griff am Arm und trieb ihn mit unsanften Stößen vor sich her. Seine geflüsterten Worte stiegen in das hallende Dunkel eines Kreuzrippengewölbes empor:
    »Und wenn dir unser Prior etwas hinfällig vorkommen sollte, dann denke daran, daß er – auch als eifriger Diener Gottes – nur ein Mensch ist, ein armseliger Mensch, der nun gehen muß …« Er hob den Finger. »Und der bereut …« hauchte er.
    Am äußersten Ende des dichten und stauberfüllten Dunkels flackerte ein roter Lichtschein auf dem gewundenen Schaft einer Säule. Von dort glaubte Séraphin das schwache Gemecker einer angepflockten Ziege zu hören. »Vorwärts!« sagte Bruder Calixtus. Er führte Séraphin mit fester Hand in einen von Türen gesäumten Gang, an dessen Ende das Mondlicht wieder zu sehen war, das in scharfbegrenztem Strahl durch das Loch eines geborstenen Gewölbes fiel.
    »Nach rechts!« sagte Bruder Calixtus. »Und zieh den Kopf ein!« Séraphin bückte sich gerade noch rechtzeitig. Sein Haar streifte den Querbalken eines Türgiebels. Als er sich wieder aufrichtete, befand er sich in einem fensterlosen Raum, wo sich das Dunkel, vom Licht einer Kerze kaum verdrängt, unter der Spitzbogendecke erneut undurchdringlich zusammenballte. Gleich beim Eintreten legte sich einem das gleichförmig rhythmische Geräusch eines Blasebalgs aufs Gemüt. Es kam von einem alten Mann, der auf einem Holzbrett lag, das von zwei steinernen Stützen etwa einen Meter über dem Boden gehalten wurde.
    Es war ein altes Brett, grob zugeschnitten und voller Astlöcher. Doch hatten vor dem Greis schon so viele darauf geschlafen, erschöpft vor Müdigkeit, von Kasteiungen geschwächt und schließlich ausgestreckt zur letzten Ruhe, daß sie es in ihrem qualvollen Umherwälzen glattpoliert hatten wie das Wasser einen Stein.
    »Bist du das, Calixtus? Hast du Séraphin Monge mitgebracht?«
    »Er steht hier vor Euch.«
    »Komm näher, ich kann kaum noch atmen.«
    Wenn er sprach, übertönten die Worte das Geräusch des Blasebalgs, das keinen Augenblick verstummte.
    »Atmen kann er schon noch«, murmelte Calixtus, »aber denken? Ob er das auch noch kann? Wer weiß das schon? Leg also nicht alles auf die Goldwaage, was er dir sagen wird.«
    »Komm her«, wiederholte der Sterbende, »setz dich mir gegenüber, damit ich dich gut sehen kann.«
    Séraphin kam so nahe, daß er das Brett berührte, das als Bettstatt diente. Die Augen, mit denen

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