Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
immer dort, schon vor deiner Geburt …«
    »Sie wollen mich sprechen?« fragte Séraphin.
    »Nicht ich. Bruder Antonius, unser Prior, der nun gehen muß. Und vorher hat er dir noch etwas zu sagen.« »Mir?« fragte Séraphin.
    Bruder Calixtus betrachtete ihn einen Augenblick schweigend. »Du heißt doch Séraphin Monge?« fragte er schließlich.
    »Ja.«
    »Dann meint er dich. Komm! Auf geht’s. Wir werden gut zwei Stunden brauchen. Wenn wir ankommen, ist es dunkel.«
    Er ging mit weit ausholendem, festem Schritt, wie beim Mähen. Séraphin folgte in seiner ruhigen Gangart mit nachdenklich gesenktem Kopf. Er hatte gute Lust, sich zu sträuben, nein zu sagen und wieder an seine Arbeit zu gehen. Dieser Mönch, dem die Kutte um die Beine schlug und der ihm den Geruch von nassen Buchsbäumen in die Nase steigen ließ, verhieß ihm nichts Gutes. Er hatte zu lange unter den Barmherzigen Schwestern gelebt, um nicht vor einer Ordenstracht, gleich welcher Art, zurückzuschrecken.
    »Warten Sie mal! Muß er weit weg, Ihr Prior?«
    »Er geht zu Jesus«, sagte Bruder Calixtus. Er hielt inne, um über einen Bewässerungsgraben zu steigen. »Das hoffen wir wenigstens alle«, fügte er sanft hinzu.
    Er griff nach einem Weidenbusch, um sich daran auf der gegenüberliegenden Grabenböschung hochzuziehen. Séraphin, der ihm folgte, verstand seine Worte nur bruchstückhaft.
    »Fünfundneunzig Jahre!« rief der Ordensbruder aus. »›Calixtus, bringe mir den Séraphin Monge her‹, hat er zu mir gesagt. ›Ich muß mein Gewissen erleichtern …‹«
    »Das hat er gesagt?«
    »Ja. Und zumindest als er es gesagt hat, war er noch bei klarem Verstand.«
    Sie kamen durch die Lorbeerhaine von Païgran. Links der Straße bildeten die Bäume, die niemandem gehörten, eine richtige Allee. Ihre Blätter sahen aus wie Lanzenspitzen und klirrten leise im Abendwind. Dann nahmen sie die Abkürzung durch den Weidenbestand von Pont-Bernard, in dem vereinzelt stehende Espenbüsche mit ihrem Flimmern die letzten Lerchen anlockten. Hier, nach der römischen Brücke, führte der Pfad nach Ganagobie durch den Graben des Kanalabflusses und schlängelte sich dann durch lichte Kiefernreihen, wo die Bäume gleichzeitig mit dem Duft ihres Harzes noch die gespeicherte Wärme des Septembertags verströmten.
    Der Weg durchschnitt den Hang in einer geraden Linie, ohne Serpentinen, die ein geruhsameres Gehen zugelassen hätten. Er führte über Wiesen und durch Talmulden, war holprig, schwer zu erkennen und mit brüchigem Geröll bedeckt, das unter den Sandalen des Mönchs wegglitt. Es war ein Büßerpfad. Es schien, als sei er eigens dazu angelegt, um denen, die auf ihm bergan stiegen, den Eindruck zu vermitteln, sie würden sich züchtigen. Bruder Calixtus, der vorausging und die Geschwindigkeit vorgab, hatte seine Mühe mit diesem Pfad der Erlösung.
    Es war nun der Augenblick gekommen, in dem die Felsenfestung, auf der sich das Plateau in Form eines Ambosses erhob, wie immer im letzten Schein des Tages ihre Livree aus Elsterngefieder anlegte, die stahlblau und rauchschwarz schimmerte. Das Säuseln der lichten Kiefern war verstummt. Die beiden Männer drangen in die Stille des Steineichenwaldes ein, und es wurde Nacht. Von nun an führte der Weg über natürliche Stufen, die mit Steinen gepflastert und von Baumwurzeln abgegrenzt wurden. Im Dunkeln tappten sie durch einen Tunnel aus Laubwerk und Felsen, und selbst der Mönch mußte den Weg, den er doch gut kannte, ertasten. Unter seinen schwieligen Arbeiterhänden gab das Kalkgestein ein schabendes Geräusch von sich.
    Sie drückten sich seitlich durch eine Felsspalte und standen schließlich im hellen Mondlicht.
    Hier trieb der Mond sein Spiel mit den Steineichenhainen, die er als dunkle, scharf ausgeschnittene Blöcke von den hellen, grasigen Flächen im Hintergrund abhob. Auf den unfruchtbaren Sandböden ließ er Gärten mit Springbrunnen und glitzernde Ausblicke auf unwirkliche Teiche entstehen. Behutsam und unmerklich – wie alle Zeichen, auf die man achten sollte – setzte sich das Geheimnis dieses rätselhaften Ortes in Séraphins Gedächtnis fest, der die Hochfläche zum ersten Mal betrat.
    Hinter der Biegung einer langen Mauer erschien unvermittelt die Kirche vor seinen Augen. Als sei sie eben erst entstanden, erhob sie sich über dem niedrigen Gras und erwartete die, die da kommen wollten. Séraphin duckte sich ein wenig. Er warf einen verstohlenen Blick auf die aufgereihten Apostel, die das Tympanon

Weitere Kostenlose Bücher