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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Zeiten abhalten könnte. Diejenigen unter uns, die Holz holen gingen, die in unserem Gemüsegarten arbeiteten, die den Jägern begegneten, sie wußten Bescheid. Aber sie verbargen alles vor mir.«
    »Ihr wart so schwach«, sagte Calixtus. »Es hat zwei Jahre gedauert, bis Ihr wieder ganz gesund wart. Und dann … Bruder Laurentius, der mit so viel Hingabe während Eures Fieberwahns bei Euch gewacht hat, hat es Euch schließlich gesagt. Aus schlechtem Gewissen … Denn – im Grunde – aus Achtung vor Euch hatte er nicht gewagt zu glauben, daß Ihr im Fieberwahn wirklich nicht wußtet, wovon Ihr spracht.«
    »Von dem Augenblick an«, stöhnte der Prior, »als ich wußte, wie deine Eltern ums Leben gekommen waren, wie man diese Unschuldigen hingerichtet hatte … Da habe ich an jene Nacht bei der Quelle gedacht, und ich habe begriffen … Ich habe begriffen, daß man die Falschen für die Mörder gehalten hatte und daß ich, nur ich allein, die Wahrheit kannte … Da stand ich nun da, ich armer Sünder! Ich hatte mich mit dem Schandmal befleckt, das in dieser Welt am wenigsten zu verbergen ist: mit der Ungerechtigkeit.«
    »Nun, nun«, sagte Calixtus und seufzte ebenfalls. »Ihr seid nicht der einzige, der an dieser Schande zu tragen hatte.«
    »Es ist nur so«, fuhr der Prior fort, »daß Gott mir zuviel Zeit gelassen hat. Und schließlich mußte ich einsehen, daß mein Schweigen der Sünde des Hochmuts gleichkam. Ich muß sagen, was ich weiß, und du bist derjenige, dem ich es sagen muß! Einer der drei hatte … hatte …«
    »Was?« fragte Séraphin atemlos. »Sagen Sie mir, was?«
    »Schwarzen Flügel …« hauchte der Prior mit seinem letzten Atem aus.
    Calixtus’ Kopf beugte sich über den des Priors, und seine leicht gekrümmten Finger legten sich auf den alten Mund, vielleicht um ihn zum Schweigen zu bringen.
    Zwischen seinen allzu fest zusammengepreßten Händen spürte Séraphin die Greisenhand ersterben, wie bei einem Vogel, dessen Kopf plötzlich auf die Brustfedern niedersinkt. Sachte legte er sie nieder.
    »Unser Herr«, sagte Bruder Calixtus, »hat ihm den Mund gerade rechtzeitig geschlossen.«
    »Glauben Sie, daß er phantasiert hat?« fragte Séraphin.
    Calixtus war damit beschäftigt, seinem Prior die Augen zu schließen, und ließ sich Zeit, bevor er sich zu Séraphin umwandte.
    »Selbst wenn Unser Herr unter uns weilte«, sagte er, »wären wir nicht fähig, ihn zu erkennen … Vergiß also alles, was er dir gesagt hat … Schenke seinen Worten keinerlei Beachtung. Wir müssen es den Engeln überlassen, die Übeltäter zur Verantwortung zu ziehen. Und sie werden es tun, da kannst du sicher sein.«
    Mit diesen Worten schloß er die Klosterpforte hinter Séraphin. Draußen war es kaum dunkler geworden. Der schrägstehende Mond ließ die Schatten, die die Steineichenhaine warfen, das golden daliegende Brachland verschlingen. Séraphin ließ die Arme hängen. Er hatte noch das Geräusch der zuschlagenden Pforte in den Ohren.
    »Vielleicht leben sie noch«, sagte er laut vor sich hin. »Und die drei anderen, die drei Herzegowiner, sind unschuldig hingerichtet worden. Burle hatte recht … Es konnte sich nicht so abgespielt haben.«
    Mit einem Fußtritt beförderte er einen Kieselstein ins Leere und lenkte seine Schritte unwillkürlich unter das Gewölbe aus Steineichenkronen, denn von weit hinten, am Ende dieser finsteren Allee, winkte ihm ein Gebirgszug zu, und von ihm erhoffte er sich Rat.
    »Sie könnten noch am Leben sein«, wiederholte er leise.
    »Aber wer sind sie? Wie soll ich das herausfinden? Nie, niemals werde ich stark genug, gerissen genug sein …«
    Am Ende der Allee beherrschte ein Kalvarienberg den Horizont. Daneben ließ er sich nieder und barg das Gesicht in den Händen. Es schien ihm, als flüsterte der Prior, über den Tod hinaus, noch immer: »Tu, was du für richtig hältst. Ich habe dir gesagt, was ich konnte … Aber du, du mußt suchen … Du mußt dich anstrengen … Du darfst dich nicht ausruhen … Was nützte dir sonst all deine Kraft? Du mußt ein Unrecht wiedergutmachen …«
    Er wiederholte diese Worte noch zwei- oder dreimal und war darüber erstaunt, daß er sie ganz alleine gefunden hatte: »Du mußt ein Unrecht wiedergutmachen … du mußt ein Unrecht wiedergutmachen.«
    »Séraphin!«
    Séraphin sprang auf. Noch während das Echo seines Namens durch die Wälder von Lurs hallte, wiederholte ihn die Stimme, die ihn so deutlich gerufen hatte, im gleichen befehlenden,

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