Das ermordete Haus
sie finden, wenn nicht, dann war alles für die Katz!‹ Es ging hin und her, sie stritten sich: ›Gibt es keine andere Möglichkeit?‹ – ›Nein, wir haben doch schon oft genug darüber gesprochen.‹ Das ist alles, was ich mitgekriegt habe. Es war zu spät, um mich ihnen zu zeigen. Ich mußte in meinem Versteck bleiben … Ich lag im Schatten der Weiden und einiger kahler Eschen, und sie saßen bei der Quelle, mitten im Mondlicht …«
»Sie?« fragte Séraphin.
»Ja. Es waren drei Männer … Und dann … Dann sagte einer: ›Ich habe euch hierhergebracht, weil wir hier an diesem Stein im Wasser unsere Messer schärfen können, ohne viel Zeit zu verlieren und ohne daß uns jemand hört. Seht, wie abgewetzt er ist. Schon mein Großvater hat hier sein tranchet geschärft.‹ – ›Glaubst du, daß wir sie brauchen werden?‹ fragte einer. Und der andere antwortete: ›Man kann nie wissen … aber wenn wir sie brauchen, dann sollten sie wenigstens gut geschliffen sein.‹ Und dann beugten sie sich alle drei über den Brunnenrand … Und ich habe nur noch gesehen, wie ihre Arme sich bewegten und wie ab und zu eine Klinge aufblitzte … und Funken … Und dann war da ein Geräusch … Es klang wie Zikadengesang. Das waren die Klingen, die sich am Stein rieben.«
Er schwieg. Sein Blick glitt zur Seite. Immer noch lauschte er diesem Geräusch nach.
»Und dann«, fuhr er fort, »nachdem sie ihre Messer geschärft hatten – und das hat lange gedauert –, sind sie alle drei aufgestanden. Sie trugen Hüte, die die Hälfte ihres Gesichts beschatteten, und darüber eine Art schwarzen Schleier, den sie gelüftet hatten. Es waren Männer … Wie du und ich.«
»Waren sie von hier oder von anderswo?« fragte Séraphin.
Bruder Antonius blieb einige Sekunden still. »Ja, von hier«, antwortete er schließlich. »Und dann … Dann hat einer gesagt: ›Wir dürfen nicht vor Mitternacht da sein. Vorher könnten immer noch ein oder zwei Fuhrwerke eintreffen … Wir nehmen die Unterführung unter dem Kanal. Wir ziehen unsere Schuhe aus und hängen sie uns um den Hals …‹ Und dann … Dann sind sie losgegangen. Nicht auf der Straße – fast wären sie auf mich getreten … Ich hörte, wie sie durch die Brombeersträucher brachen und Steine unter ihren Füßen wegrollten … Ich war wie … versteinert.«
Séraphin spürte, wie sich die Hand des Alten in der seinen bewegte.
»Ich weiß, was du dich jetzt fragst«, sagte er. »Du fragst dich, warum ich nicht sofort aufgestanden bin … Warum ich nicht nach Peyruis gegangen bin, um Alarm zu schlagen … Aber denk mal daran, in welchem Zustand ich war: Ich hatte mit meiner Vorratstasche vierhundert Kilometer über die Berge zurückgelegt. Ich war schmutzig und zerlumpt. Kein Mensch und am wenigsten die Polizei hätte geglaubt, daß ich bei klarem Verstand bin. Und schließlich … Hatte ich sie überhaupt richtig verstanden? … Hatten die drei wirklich eine Übeltat vor? Und außerdem hatte ich ja versucht, ihnen zu folgen – o ja! Aber es waren junge Kerle. Sie sprangen … sie liefen. Ich war zweiundsiebzig, und vierhundert Kilometer steckten mir in den Beinen. Und dann … Wußte ich denn überhaupt, wo sie hinwollten?«
»Aber«, sagte Séraphin, »am nächsten Tag?«
Bruder Antonius schüttelte lange den Kopf; seine Halswirbel knackten.
»Es gab keinen nächsten Tag … Schon als ich hier heraufstieg, hatte mich das Fieber am Wickel. Ich klapperte mit den Zähnen. Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, zu klopfen oder mich bemerkbar zu machen. Als sie aufmachten, um Wasser zu holen, fanden sie mich an die Pforte gekauert.«
»Das ist die reine Wahrheit«, sagte Bruder Calixtus, der bis dahin den Mund nicht aufgemacht hatte.
»Vierzig Tage befand ich mich …«
»… zwischen Leben und Tod«, sagte Calixtus. »Und oft war er dem Tod näher als dem Leben … Aber wir mußten ihn auf seinem Brett festhalten … Er wollte aufstehen, er sprach von Messern, die gewetzt würden … von Mördern … Was weiß ich noch alles. Mehr als hundert Mal hat er das Wort ›Gendarm‹ gesagt.«
»Vierzig Tage«, hauchte Bruder Antonius.
»Aber Sie? Wann haben Sie davon erfahren?« wandte sich Séraphin an Calixtus.
»Gar nichts haben wir erfahren. Nun … jedenfalls nicht sofort. Wie unser Geist ist auch unsere Pforte allem Weltlichen verschlossen.«
»Es gibt keine Pforte«, sprach der Prior mit klarer Stimme, »die den Lärm, der um ein Verbrechen gemacht wird, für alle
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