Das ermordete Haus
ihn der Bettlägerige ansah, schienen ihm in panischem Schrecken geweitet. Und es kam ihm auch so vor, als wolle dieser sich aufrichten, vielleicht sogar fliehen … Ein erstickter Schrei entrang sich seinen pfeifenden Lungen. Calixtus sprang auf, um ihn zu stützen und wieder hinzulegen.
»Ich sehe Flügel«, stöhnte der Prior. »Nun, nun, Bruder Antonius, Ihr seht doch, daß hier nur ein armer Sünder steht …«
»Ich bin Straßenarbeiter«, sagte Séraphin.
Der Sterbende beruhigte sich wieder. In sein Gesicht kehrte ein wacherer Ausdruck, etwas Lebendigkeit zurück. Man hatte den Eindruck, als hebe sich ein Gewicht von seiner eingefallenen Brust. Der Blasebalg war nur noch wie von ferne zu hören. Bruder Antonius wurde heiterer.
»Ah, richtig, du bist Straßenarbeiter … Der Straßenarbeiter von Lurs … Aber du bist doch auch Séraphin Monge? Du bist doch der, der sein Haus abreißt?«
»Ja«, antwortete Séraphin.
»Dann warte … Du bist es, dir habe ich etwas mitzuteilen.« Er forschte in Séraphins Gesicht, als suche er nach der Lösung eines Rätsels. Einzig in seinen Augen war noch Leben. Die Zähne hatte er verloren, und seine Nase war spitz geworden. Nur die glatte Stirn hatte die Verwüstungen des Lebens überdauert.
»Hör zu«, sagte er, »hör mir zu, und unterbrich mich nicht. Ich werde dir von einer Zeit erzählen, als es dich noch gar nicht richtig gab. Ich werde dir von der Nacht erzählen, in der du deine ganze Familie verloren hast. Komm ganz nahe zu mir, komm. Knie dich neben mein Brett. Dann verstehst du mich besser. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich bis ans Ende meiner Erzählung gelangen werde …«
Er legte ihm schüchtern die Hand auf den Arm, eine Hand, die wußte, daß sie nie wieder zu irgend etwas oder für irgend jemanden von Nutzen sein würde, eine erschöpfte Hand, die sich vielleicht in der Hoffnung dorthin gelegt hatte, von Séraphin ein wenig von der Kraft zu erhalten, die nötig war, damit ihr Besitzer die Aufgabe erfüllen konnte, die er sich selbst auferlegt hatte.
Diese Hand hatte schon etwas von der Eleganz und Wohlgeformtheit eines Skeletts. Aber zugleich war sie noch so anrührend, daß man sie aus reinem Erbarmen ergriff. Séraphin konnte sich dem Flehen, das von ihr auszugehen schien, nicht verschließen. Er nahm sie und drückte sie sanft zwischen seinen beiden Händen. Und da schien es ihm – es schien ihm so –, als liege der Mönch endlich in einem Federbett.
Sofort begann der Prior zu sprechen, in großer Hast. Die Worte folgten ohne Unterbrechung aufeinander und waren stets vom Pfeifen des Blasebalgs begleitet, das jedem von ihnen eine besondere Bedeutung verlieh.
»Ich kam aus der Abtei von Hautecombe in Savoyen«, sagte er, »über das Gebirge. Da drüben war ich einer von den fetten Mönchen gewesen. Aber ich wollte mager sein. Ich wollte nicht in Behaglichkeit sterben. Ich wollte Zugluft spüren, Kälte, in Ruinen leben.« Mit seiner freien Hand klopfte er zweimal matt auf sein Brett aus Nußbaum. »Da drauf wollte ich liegen«, sagte er. »Dabei wußte ich den Weg nur ungefähr. Ich richtete mich nach den Sternen – sofern welche zu sehen waren! Dreizehn Tage lang bin ich im Regen marschiert. Eines Abends hörte ich das Rauschen der Durance, und ich wußte, daß ich am Ziel war. Ich war völlig durchnäßt … Meine Kutte wog mindestens zehn Kilo … Gerade hatte ich die Wegbiegung bei Les Combes, unterhalb von Giropée, hinter mir … Der Regen … der hatte gerade aufgehört. Die Nacht stand vor der Tür. Es gibt dort … da ist eine Quelle. Du weißt schon, die Quelle direkt am Erdboden … Das Wasser kommt geräuschlos aus dem Boden hervor … Wenn man sie nicht kennt, steht man plötzlich drin … Und es ist kaltes Wasser.«
»Ich kenne sie«, sagte Séraphin.
»An dieser Quelle habe ich getrunken, ich bin ein paar Schritte höher gestiegen, zu den Weiden … Ich wollte mich fünf Minuten ausruhen und danach das letzte Stück Weg bis hierher gehen. Aber wie das so geht … Vor dreiundzwanzig Jahren war ich auch schon zweiundsiebzig … Ich bin eben eingeschlafen … Ich weiß nicht mehr, wovon ich aufgewacht bin … Vom Mondlicht oder von den Stimmen? Jedenfalls hörte ich jemanden sagen: ›Wenn man uns erwischt, dann …‹ und einen anderen antworten: ›Man wird uns nicht erwischen, wir werden uns gegenseitig decken.‹ Und da war noch einer, den habe ich nicht richtig verstanden … Er sprach von Papieren. Er sagte: ›Wir müssen
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