Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
Vom Netzwerk:
Stimme ließ die Worte unmittelbar an den Lippen ertönen und rann wie ein dünner Strahl Essig aus einem Arzneifläschchen, ohne Klangfarbe und völlig ausdruckslos. Sie streckte ihre Hand mit dem zur Hälfte abgebeteten Rosenkranz aus, schüttelte den Kopf und wiederholte: »Das also ist Séraphin Monge? Wenn ich es damals geglaubt hätte … Wenn ich jemals hätte glauben können …«
    Patrice nahm Séraphin beiseite und zog ihn zum Fenster.
    »Vor lauter Frömmigkeit verblödet und dazu stocktaub, das ist meine Mutter.«
    »Sie haben wenigstens noch eine …« murmelte Séraphin.
    »Was heißt da ›noch‹? Sie hat doch nur …« Plötzlich wurde ihm wieder bewußt, daß er es mit der Waise von La Burlière zu tun hatte. »Sie hat mich nie weinen gehört, nie hat sie mich lachen gehört«, sagte er. »Als sie achtzehn war, hütete sie die Kühe ihres Vaters unter einem Nußbaum – dort oben bei Chauffayer zwischen Gap und Grenoble, im Champsaur. Der Blitz schlug so dicht neben ihr ein, daß ihr beide Trommelfelle geplatzt sind. Mein Vater hat sie dennoch geheiratet, weil sie ›vielversprechend‹ war. Nur zu dumm, daß die ›Versprechungen‹ auf sich warten ließen … Die beiden Erbonkel haben sich mit dem Sterben reichlich Zeit gelassen.«
    Er führte Séraphin zu dem für vier Personen gedeckten Tisch zurück und wies ihm einen mit verschossenem blauen Rips bezogenen Stuhl zu. An dem langen Tisch war Platz für viele Gäste. An seiner Stirnseite, der Mutter genau gegenüber, befand sich ein größeres Sitzmöbel, das seltsam eindringlich wirkte und der Tafelrunde vorzusitzen schien, obwohl die Tischdecke vor ihm von keinem Gedeck geziert wurde.
    »Wenn Ihr Vater Angst vor mir hat«, sagte Séraphin, »so hätte ich besser nicht kommen sollen.«
    »Was redest du denn da? Das wäre ja noch schöner! Vergiß nicht, daß ich sein Memento mori bin. Und überhaupt: In geschäftlichen Dingen bin ich genauso erfolgreich wie er. Und dabei wirkt die Visage, die ich aus dem Krieg mitgebracht habe, Wunder! So ist das nun mal. So etwas verschafft einem Ansehen bei den Leuten!«
    Séraphin nickte lächelnd, wandte jedoch seinen Blick keine Sekunde von dem leeren Stuhl am anderen Ende des Tisches, in den er vor seinem inneren Auge das Bild eines Mannes zu zeichnen versuchte, den er nicht kannte und den er umzubringen hatte.
    »Und dann darfst du nicht vergessen, daß sie uns auch etwas schulden!«
    In diesem Moment schweifte Séraphins Blick über das verloren wirkende Gedeck ihm gegenüber, vor dem noch niemand Platz genommen hatte.
    Plötzlich waren feste Schritte vom Ende des Korridors zu vernehmen, an dem eben erst die Töne des Klaviers verklungen waren. Jemand näherte sich mit klappernden Absätzen, schnell, energisch. Séraphin sah sich einer Frau gegenüber, die der Krieg zur Witwe gemacht hatte und deren geschmeidiger Körper eng in schwarze Seide gehüllt war. Von Kopf bis Fuß zeichnete schwarzweißer Stoff die Formen ihres Körpers nach. Ihr Kleid wiederholte das Schachbrettmuster der Fliesen, über die sie schritt. Sie hatte runde Augen, die wie bei einem Raubvogel eng beieinanderstanden und in denen Lichtpunkte tanzten, wie sie sonst nur aus dem Unterholz funkeln. Eine ungeheure, wenn auch  zurückgedrängte Gemütsbewegung drohte  die Zurückhaltung zu durchbrechen, die ihr stolzes, auf Unabhängigkeit bedachtes Wesen ihr auferlegte. Ihr Anblick traf Séraphin mit voller Wucht. Er wankte. Er, der sonst nie etwas mitkriegte, begriff unmittelbar, wie groß das Leid sein mußte, das diesen Körper bewohnte. Niemand hatte ihn je gelehrt, sich vor einer Frau zu erheben, und noch nie hatte er es getan. Aber vor dieser Frau stand er instinktiv auf, warf dabei vor Hast beinahe seinen Stuhl um und wußte nicht einmal, ob er es tat, um ihr zu huldigen oder aber um sich ihr gegenüber bedeckt zu halten.
    Patrice, der eine unangezündete Zigarette in der Hand hielt, versuchte in Séraphins Gesichtsausdruck zu lesen, was für einen Eindruck dieser Auftritt auf ihn machte. Wenn er sie nicht liebt, sagte er sich, werde ich ihn auch nicht mehr lieben können.
    Laut sagte er: »Meine Schwester Charmaine. Ihr Mann ist im Oktober 1918 gefallen. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?«
    Charmaines Blick hielt Séraphin, der nicht die Zeit gehabt hatte, die nötige Gleichgültigkeit in den seinen zu legen, gefangen. Ihre langen Hände hatte sie leicht vom Körper abgespreizt. Sie deutete eine Art spöttischen Knicks

Weitere Kostenlose Bücher