Das ermordete Haus
daß er, wenn er sie verschwinden ließe, den Célestat Dormeur viel zuverlässiger strafen würde, als wenn er ihn selbst umbrächte. Er könnte dann nicht einmal beim Leichnam seiner toten Tochter weinen. Wenn er sie hinuntergestürzt hätte, würde Séraphin diesen verfluchten Brunnen sofort bis zum Rand auffüllen. Mit der großen Ramme, die er für die Instandsetzung der Straße benutzte, würde er allen Schutt über ihr feststampfen, den er nur auftreiben konnte.
»Sein Augapfel …« murmelte er zwischen den Zähnen.
Nur noch zehn Meter trennten ihn von seinem Opfer, und alles, was sie so anziehend machte, trat beim Näherkommen immer deutlicher hervor. Mit einer Hand hielt sie sich am schmiedeeisernen Brunnenaufsatz fest, und am Zeigefinger dieser Hand funkelte ein großer hellblauer Stein, der die Farbe ihrer Augen haben mußte. Er hatte sich ihr bis auf wenige Meter genähert. Deutlich sah er ihre frischen Lippen und an der sehnigen Hand, die den Brunnenaufsatz umfaßte, den Stein, in dem sich die Sonne brach und der ihn anzulocken schien – wie ein Spiegel, mit dem man eine Lerche herbeilockt.
Beim nächsten Schritt schloß er die Augen, denn er befürchtete, daß sich Maries vertrauensvoller Blick für immer in sein Gedächtnis einprägen könnte. Um ihn herum waberte die Luft in einer gleichförmigen Wellenbewegung, wie bei einem Erdbeben. Er glaubte ein Rascheln von welkem Laub zu hören – er hörte es wirklich –, als wolle aus den Blättern im Waschtrog eine ungeheure Beule hervorbrechen. Er sah seine Mutter in einem Luftstrom aus dem Trog aufsteigen. Sie kam aus einer der mit Stroh vollgestopften Seifenkisten, die die Wäscherinnen früher benutzt hatten und deren Überreste Séraphin tief aus dem Gebüsch hervorgeholt hatte. Sie erhob sich. Sie wandte sich ihm zu. Sie ging durch Marie hindurch und durch Séraphin. Er ging ihr aus dem Weg. Hastig wich er zurück. Ihr Gesicht glich demjenigen, das er im Traum gesehen hatte – dieses Gesicht, das vielleicht nie das ihre gewesen war –, ihre starren Züge hatten den maskenhaft gleichmütigen und ernüchterten Ausdruck, den Séraphin im Krieg bei so vielen Gefallenen bemerkt hatte. Ihre Schulter hing schief, vom Gewicht eines Eimers voll Wasser herabgezogen, den man nicht sehen konnte, und ihren linken Arm streckte sie leicht vom Körper weg, wie um das Gleichgewicht zu halten, in der Haltung, die sie oft auf dieser deutlich sichtbaren und unzweifelhaft realen Trittspur eingenommen haben mußte, wenn sie fügsam zwischen Haus und Brunnen hin- und herging. Und so ging sie langsam auf La Burlière zu, genau zu der Stelle, an der sich die Tür befunden hatte, überschritt deren Schwelle und war, als sie die ihrer Materie beraubte Küche betreten hatte, mit einem Mal verschwunden.
Diese Halluzination hatte nicht länger gedauert als ein Blitz. Zeit genug, um Séraphin vier Meter zurückweichen zu lassen, als wäre Marie ein Magnet mit umgekehrten Polen. Zeit genug, um auch den Ort ausfindig zu machen, an dem sich dieser Brunnen zum ersten Mal in sein Gedächtnis eingeprägt hatte. Es war in jenem Traum gewesen, in dem ihm seine Mutter schon einmal erschienen war. Damals hatte er, in seiner Bestürzung über den Anblick dieses Wesens, das da spärlich bekleidet wie auf einer schlüpfrigen Illustration auf ihn zukam, den Brunnen für eine Balustrade und das schmiedeeiserne Gestänge des Brunnenaufsatzes für einen Laubengang gehalten. Der Ort, an dem sie damals aufgetaucht war, hatte nur schwache Spuren in seinem Unterbewußtsein hinterlassen. Aber jetzt trat er klar in Erscheinung. O ja, genau von diesem Brunnenaufsatz, von dieser Brunneneinfassung aus bleichem Marmor, von diesem Waschtrog – der damals allerdings voll klaren Wassers war – war seine Mutter gekommen, um ihm ihre riesigen Brüste zu reichen, auf denen der letzte Tropfen jener Milch erstarrt war, die sie ihm hatte geben wollen. Es klang wie eine Ohrfeige, als Séraphin sich mit einer heftigen Bewegung die Hände vors Gesicht schlug.
»Mein Gott! Was hast du? Was hast du denn?«
Marie war von der Brunneneinfassung heruntergesprungen.
Sie hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an Séraphins Handgelenke, und es gelang ihr doch nicht, sie wegzuziehen.
»Verschwinde!« stieß er hervor. »Verschwinde. Schnell! Hau ab!«
Mit den fest geschlossenen Fäusten vor seinem Gesicht hatte er die Nacht über sich hereinbrechen lassen, als ob die Dunkelheit die Vision auslöschen könnte, die
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