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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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pflegte, in der ihren gespürt hatte, hatte sich Mutlosigkeit in ihr breitgemacht, und ihr ganzer Schwung war mit einem Schlag von ihr gewichen.
    Seit einigen Augenblicken jedoch wurde ihr langsam bewußt, daß dieser Straßenarbeiter, der durch seine Größe und durch seine Dummheit auffiel – warum sonst hätte sie nichts bei ihm erreichen können? –, vielleicht nicht so leicht zu durchschauen war, wie es zunächst den Anschein hatte.
    Sie achtete auf seine Hände, die stets zu Fäusten geballt waren, als wären sie bereit, jeden Augenblick zuzuschlagen. Seine Hände, in denen sich die Gabel aus Silber und das Messer mit dem Griff aus Horn geradezu lächerlich ausnahmen. Ein kleiner Wutanfall, sagte sie zu sich selbst, und er könnte das Besteck glatt aus Versehen in tausend Teile zerbrechen und in Splittern auf dem Tisch zurücklassen. Und dieses einfältige Lächeln, das er nie ablegt, gelangt gar nicht in seine Augen, gehört nicht ihm selbst. Im übrigen hat mir dieser Blick, als er eben dem meinen begegnete, keine Versprechungen gemacht. Er hat mich erstarren lassen, das ist alles, und doch …
    Langsam, ganz langsam schätzte Charmaine von ihrem Platz an diesem Tisch aus, an dem Séraphin bedächtig Häppchen für Häppchen aß, ihr Gegenüber ab, und es schien ihr, daß alles, bis hin zu dem Etikett »Straßenarbeiter«, das man ihm aufgeklebt hatte, dazu beitrug, ihn unkenntlich zu machen, ihm Tarnung zu gewähren, wie es bei diesen Insekten der Fall ist, deren Farbe sich immer der Umgebung anpaßt, in der sie sich bewegen.
    Angesichts dieses Rätsels – und ohne Rätsel gab es für sie keine Liebe – wurde sie von einer wohligen Erregung ergriffen. Aber sie ließ nichts von diesem neuen Interesse durchschimmern, das Séraphin in ihr geweckt hatte. Ganz im Gegenteil, sie gab sich betont gelassen, er schien ihr völlig gleichgültig zu sein, und sie behandelte ihn mit derselben zerstreuten Höflichkeit, die sie jedem anderen Freund ihres Bruders hätte zuteil werden lassen.
    »Ja …« seufzte Patrice, »er macht uns schon große Sorgen, unser Vater. Stell dir vor, er schwärmt für eine größenwahnsinnige Diva aus Marseille. Dreimal hat sie das Alcazar gemietet, dreimal sind gerade mal fünfzig Besucher gekommen. Mein Vater hat alles bezahlt. Das Schlimmste ist, daß es sich herumgesprochen hat. Und der Diva stehen jetzt sämtliche Türen offen. Verstehst du, sie hat jetzt Kredit. « Alle Puzzleteile seines zusammengeflickten Gesichtes gerieten durcheinander, als er ein Stück Hasenrücken hinunterschluckte. Als er wieder den spöttischen, für ihn so typischen Ausdruck angenommen hatte, fuhr er fort: »Auf die Dauer wird er uns so noch an den Bettelstab bringen …«
    »Und dabei hat sie einen unmöglichen Hintern«, stöhnte Charmaine. »Mit der macht er die Familie überall lächerlich.«
    »Und außerdem hat er seine Gedanken nicht mehr bei den Geschäften«, fuhr Patrice hartnäckig fort.
    »Er wird zu einer Gefahr für die ganze Familie«, bekräftigte Charmaine.
    Patrice wandte sich seiner Mutter zu. Sie unterhielt sich in Zeichensprache mit der Dragonerin, die ihrerseits Séraphin nicht aus den Augen ließ. »Zugegeben, die Nächte mit der da waren bestimmt kein rechtes Vergnügen«, brummelte er. »Sie hat ihm ganz schön was eingebracht, aber der Preis dafür war hoch …« »Hat er … lange auf das Geld warten müssen?« fragte Séraphin.
    »Ja, lange … mindestens fünf Jahre waren es letztlich … Die beiden Onkel starben so um 1900 … Ich war damals vier Jahre alt …«
    »Und ich ein Jahr«, sagte Charmaine. »Das ist lange her …« sagte Séraphin.
    Patrice stand abrupt auf. »Komm! Laß uns in meinem Atelier eine Zigarette rauchen!«
    Er zog Séraphin mit sich in Richtung einer gebohnerten Holztreppe. Er öffnete eine Tür, und stickige, nach Terpentin riechende Luft schlug ihnen entgegen.
    »Setz dich irgendwohin, wo Platz ist!« sagte er.
    In dem Raum befanden sich lediglich einige durchgesessene Sofas und eine bauchige Kommode, auf der ein großer Marmorkopf stand, mit einer schön geschwungenen Nase, einem zarten Kinn, einer nachdenklichen lorbeerbekränzten Stirn. Er hatte weiße Augen, wie die eines Blindgeborenen. Séraphin ließ seine Hand über den Marmor gleiten. Um ihn herum standen über das ganze Zimmer verteilt Unmengen von Gemälden. Manche waren verkehrt herum an die Zimmerwand gelehnt, andere hingen schief an den Wänden. Auf all denen, die man sehen konnte, waren

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