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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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ihn peinigte. Daß sie am hellichten Tag über ihn gekommen war, um elf Uhr früh, in der friedlichen Heiterkeit eines Sonntags – gerade hatte die Glocke von Ganagobie zur Messe gerufen, war ein Lastwagen mit lärmendem Kettenantrieb langsam vorübergefahren, hatte der Zug Marseille-Briançon in der Kurve von Giropée einen Pfiff ausgestoßen –, all das machte diese Vision nicht weniger unwirklich und nicht weniger trostlos.
    Marie, die folgsam zurückgewichen war, konnte sich dennoch nicht dazu entschließen, ihn einfach so stehenzulassen. Sie schaute ihn mit großen Augen an, als er ihr immerfort mit der Hand ein Zeichen gab. Ein Zeichen, das alles abschnitt. Ein Zeichen, das immer wieder zum Ausdruck bringen wollte: »Geh endlich weg. Bleib nicht hier! Hau ab!« Sie sah nur diese Bewegung und Séraphins Rücken, denn er wich langsam zurück, als müsse er ein Wesen auf Distanz halten, das nur er sehen konnte.
    »Er wich vor diesem Brunnen zurück wie vor einem wilden Tier«, sollte Marie sechzig Jahre später sagen.
    8
    ALS Séraphin Monge am darauffolgenden Sonntag, sein Fahrrad neben sich her schiebend, in die Sykomorenallee einbog, die nach Pontradieu führt, schienen selbst die Bäume das Unheil anzukündigen. Ihre belaubten Kronen, die vom Mistral zerzaust wurden, schrien sich gegenseitig Worte des Entsetzens zu.
    Die Allee war lang, verlief nicht gerade. Die Stoppelfelder und Weinberge am Fuße der Platanen lagen seit kurzem in herbstlichem Sterben. Durch das kräftige Geäst der exakt beschnittenen Spindelbäume hindurch schimmerte an manchen Stellen Wasser, das der Wind wie Sterne funkeln ließ. Ein schmaler, von gedrungenen Buchsbäumen gesäumter Pfad zweigte von der Allee ab und schien geradezu dazu aufzufordern, ihm zu folgen. Séraphin lehnte sein Fahrrad gegen einen Baum und ging dem Pfad nach. Die Spindelbäume bildeten einen doppelten dichten Vorhang vor ihm, und als er diesen durchschritten hatte, sah er sich plötzlich der gekräuselten  Oberfläche eines Wasserbeckens  von beträchtlichen Ausmaßen gegenüber. Er schätzte es auf wenigstens vierzig mal zwanzig Meter. An seiner Längsseite zog sich schützend eine Reihe Pappeln entlang, die die Spiegelfläche des Wassers noch länger erscheinen ließ.
    Patrice hatte ihm von diesem Wasserreservoir erzählt. Gaspard Dupin hatte weder Mühen noch Kosten gescheut, die Schadstellen des Beckens ausbessern zu lassen und es wieder mit Wasser zu füllen. Vor dieser Zeit hatte es, angefüllt mit welkem Laub, wie ein ausgelaufenes Auge unter den Pappeln gelegen. Gaspard Dupin hatte den Brunnenrand aus weißem Marmor ausbessern lassen. Über eine Strecke von mehr als fünfhundert Metern hatte er die Wasserleitungen aus Ton ausgegraben, die an manchen Stellen eingedrückt worden waren. Seitdem floß wieder Wasser aus dem Brunnen, der die gesamte Breitseite des Beckens gegen Norden hin einnahm. Er war in Form eines Louis-quinze-Giebels ausgebildet und mit klotzigen Steinmuscheln bestückt. Die grobgeschnittenen Gesichter vierer einst von den Grafen von Pontradieu ausgegrabener antiker Laren waren darin eingelassen. Durch die Kupferrohre, die man ihnen in die weitgeöffneten Münder eingesetzt hatte, wodurch ihnen ihr zotiges Grinsen abhanden gekommen war, spien sie lautlos vier taudicke Wasserstrahlen in das Becken.
    Minutenlang blieb Séraphin träumend vor dieser ruhigen Wasserfläche stehen. Er stand auf der Marmoreinfassung, die ebenso bleich schimmerte wie die des Brunnens bei La Burlière und ungefähr aus der gleichen Zeit stammen mußte. Er schritt langsam um das Becken herum. Der Beckenrand war gut fünfzig Zentimeter breit, so daß man bequem darauf gehen konnte. Es schien Séraphin, als könne er neben seinen eigenen klobigen Schuhen noch die heimlichen Schritte der Bischöfe wahrnehmen, die einst in Gedanken versunken hier entlanggewandelt waren.
    Als er sein Fahrrad vom Stamm der Platane nahm, konnte er an nichts anderes denken als an dieses Becken. Es übte einen magischen Zwang auf ihn aus; es schien ihm zuzuwinken und ihn aufzufordern, von seiner Macht Gebrauch zu machen. Er stellte sich vor, wie er Gaspard Dupin darin ertränkte.
    Während er weiterging und über diese schlichte Lösung nachdachte, wurde er plötzlich gewahr, daß der Wind nicht mehr durch die gleichen Baumkronen wehte. Er hob den Kopf. Er glaubte, ein Windrad zu sehen; es war eine Pergola, an der üppige Rosen emporrankten. Er sah einen Pavillon, der einer Pagode

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