Das ermordete Haus
wohlgeformte Frauen- oder Männerköpfe dargestellt.
Auf der Staffelei befand sich ebenfalls ein Gemälde, verkehrt herum. Auf den Rahmen hatte jemand mit Rotstift ein Wort, ein einziges Wort geschrieben: Erwartung.
Schnell drehte Patrice das Gemälde um, während Séraphin, der inzwischen Platz genommen hatte, ganz mit dem Drehen einer Zigarette beschäftigt war. Als er die Augen hob, erblickte er eine hingegossene Frauengestalt im Halbprofil, die den Kopf geneigt hielt und zu schlafen schien. Durch eine imaginäre Linie wurde sie in zwei Dreiecke geteilt, die eine Hälfte ihres Körpers, weiß dargestellt, befand sich im Dunkeln, während die andere, schwarze Hälfte auf weißem Hintergrund abgebildet war. Das Gemälde war in Schwarz und Weiß gehalten, und im Hintergrund, wo ein wüstes ländliches Fest skizziert war, setzte ein rosafarbener Schwefelschimmer einen besonderen Akzent.
»Was meinst du?« sagte Patrice sanft und setzte sich neben Séraphin. »Meinst du nicht auch, daß es einer Sünde gleichkommt, all dies schöne Fleisch so unberührt zu lassen?«
»Ist das Ihre Schwester?« fragte Séraphin.
»Wenn du so willst, ja«, sagte Patrice. »Es ist eine Komposition, zu der sie mich angeregt hat. Ursprünglich hatte ich an einen langen Zug von Kriegerwitwen gedacht, die die Gräber der Gefallenen aufsuchen. Nun ist nur das da daraus geworden, mit diesem Fest im Hintergrund.«
Er merkte plötzlich, daß Séraphin seinen Worten keine Beachtung mehr schenkte, sondern seinen Blick nicht mehr von einer Stelle neben dem Fenster abwandte, wo ein Bild schief an der Wand hing. Seine Hände waren beim Rollen der Zigarette erstarrt, sie wurde nicht fertig. Er stand auf. Er stellte sich vor das Gemälde. Es zeigte abschreckend detailgetreu den Kopf eines Mannes, der abgetrennt auf einem altgoldfarbenen Tablett stand. Offenbar sollte niemand ihn anziehend finden.
Es war der Kopf eines recht gewöhnlich aussehenden Mannes mit nach unten gerichtetem Blick und massigem Kinn. Die Gesichtszüge waren einem grobschlächtigen Schädel aufmodelliert und machten diesen Schönheitsfehler insofern wett, als sie den Eindruck von männlicher Energie vermittelten. Der Kopf strahlte die Willenskraft eines Jahrmarktschreiers oder eines Roßtäuschers aus.
»Das ist mein Vater«, sagte Patrice. »Findest du nicht, daß ich ihm ähnlich sehe?« Er brach in schallendes Gelächter aus. Der Speichel rann ihm über seine künstlichen Lippen.
Einem der drei Mörder seiner Mutter ins Gesicht zu sehen, und dazu noch aus nächster Nähe, das übte eine ungeheure Wirkung auf Séraphin aus. Diese in allen Farben des Wohllebens leuchtende Visage ließ ihn nicht los, und er war bemüht, sich diesen Mann jung vorzustellen, so, wie er vor fünfundzwanzig Jahren ausgesehen haben mochte, als er, vielleicht als magerer Hungerleider, in der Küche von La Burlière aufgetaucht war. Durch die offene Tür hinter ihnen war Charmaine eingetreten und betrachtete Séraphins Rücken, wie er so vor dem Porträt ihres Vaters stand. Sie sah auch das schwarzweiße Gemälde mit dem rosafarbenen Dunstschleier im Hintergrund, das ihren eigenen imaginären Körper darstellte, der dank des Schattens und des Lichts, die ihn in zwei lange Dreiecke teilten, nur um so realer und sprechender erschien. Und was tat dieser Séraphin, dieses Abbild des paysan du Danube aus den Fabeln des Herrn La Fontaine? – O ja, er brauchte nicht erst zu betonen, daß er Straßenarbeiter war, das sah man auch so! Anstelle dieser melancholischen Erscheinung, deren zweideutig sinnliche Ausstrahlung Patrice so gut getroffen hatte, betrachtete er lieber das selbstzufrieden lächelnde Gesicht ihres Vaters, dieses Lebemanns, der sich in seinem neuen Reichtum die Freßsucht des einstigen Hungerleiders bewahrt hatte.
Sie glaubte, Séraphin die gleiche Verachtung entgegenbringen zu können wie dem Bildnis ihre Vaters. In diesem Moment jedoch wandte er sich ihr mit seinem ganzen Körper zu, wieder begegneten sich ihre Blicke, und bevor Séraphin ihr den seinen entziehen konnte, hatte sie in ihm dasselbe Glimmen wahrgenommen wie eben, als er den leeren Sessel so aufmerksam gemustert hatte. Augenblicklich verschwand dieses Aufleuchten wieder hinter einem unbefangenen Lächeln. Aber Charmaine war auf der Hut, und eine unerklärliche Beklemmung mischte sich in das Verlangen, das sie nach diesem Mann und seinem athletischen Körper verspürte.
Es wurde Abend. Séraphin, dessen Fahrrad keine Lampe
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