Das ermordete Haus
hatte, verkündete, daß er nun heimkehren müsse.
»Ich begleite ihn bis zum Tor«, sagte Charmaine.
Patrice drückte Séraphins schlaffe Pranke mit beiden Händen. »Komm, wann immer du Lust dazu hast«, sagte er. »Es tut mir gut, dich zu sehen. Ich habe keine Freunde. Und ich will auch keine. Du verstehst schon … Wenn sie dann irgendwann kommen, um mir zu sagen, daß sie heiraten wollen … Dann heißt es: ›Wir hätten dich ja wirklich gerne eingeladen, aber du verstehst doch hoffentlich …‹« Er ließ sein Lachen hören, in dem stets ein falscher Ton mitschwang. »Aber klar. Meine Fratze. An so einem Freudentag! Das geht ja nun wirklich nicht! Deshalb keine Freunde! Bei dir kann ich wenigstens sicher sein, daß nichts Derartiges auf mich zukommt.«
»Nein«, sagte Séraphin, »von mir haben Sie in dieser Hinsicht nichts zu befürchten.«
Als sie gemeinsam die Treppe hinunterstiegen, Charmaine allen voran, hielt Patrice Séraphin am Arm zurück. »Übrigens … dieses Mädchen, du weißt schon, die, die ich damals gesehen habe … an einem Sonntag bei La Burlière …«
»Welche?«
»Du weißt genau, welche ich meine!« Patrice hielt den Kopf gesenkt, als ob er einen Fehler eingestehen wollte. »Die, die mich gegrüßt hat … Die mich angelächelt hat. Die ich als Perserin bezeichnet habe …«
»Ah, jetzt verstehe ich!« sagte Séraphin. »Sie meinen die Rose Sépulcre.«
»Siehst du sie noch ab und zu?«
»Manchmal begegne ich ihr …« sagte Séraphin, der keineswegs vergessen hatte, daß auch sie die Tochter eines Mörders war.
»Wenn du sie das nächste Mal siehst, dann sag ihr doch …«
Patrice hielt plötzlich inne. Sie waren am Fuß der Treppe angekommen. An der Tür hing ein Spiegel. Patrice lachte bitter auf.
»Sag ihr ja nichts!« rief er aus. »Gar nichts! Was könntest du ihr auch schon sagen?«
Séraphin wandte ihm jäh den Rücken zu, um sein Fahrrad zu holen, das an einem Baum lehnte. Charmaine wartete auf ihn und ging neben ihm her. Patrice sah ihnen nach. Er hätte die beiden gerne gezeichnet, wie sie diese Allee entlanggingen, der eine in seinem alten Samtanzug und dem blauen Hemd mit den weißen Blümchen, die andere in ihrem Kleid mit dem Schachbrettmuster, mit gut aufeinander abgestimmten Schritten und in schüchternes, aber bedeutsames Schweigen versunken. Und dennoch würden sich ihre Wege am Ende der Allee trennen. Séraphin würde Charmaine zum Abschied seine schlaffe Hand reichen und Charmaine mit gesenktem Kopf zurückkehren. Und beide würden sie sich dem Alter wieder um einen kleinen Schritt genähert haben.
Die Dunkelheit brauchte lange, um vollständig über das Land herabzusinken. In den Hochtälern zwischen Ubaye und La Clarée mußten schwere Gewitter getobt haben, denn die rosageränderten Wolken quollen wie lang zurückgehaltener Dampf hinter den Bergen empor. Im Wehen des Mistrals hörte sich das Rauschen der Durance an, als werde sie bald anschwellen.
»Es gibt also eine Rose Sépulcre in Ihrem Leben?« fragte Charmaine.
»Nein«, sagte Séraphin, »in meinem Leben gibt es überhaupt niemanden.«
Als sie nahe bei den Spindelbäumen angekommen waren, die noch die Sicht auf das Wasserbecken verstellten, ging sie ihm voran auf den Giebelbrunnen mit den grimassenschneidenden Laren zu.
Sie bückte sich, um aus einem der Wasserrohre zu trinken, und er wandte den Blick ab, da er es schwer ertragen konnte, sie in dieser Stellung zu sehen.
Sie richtete sich wieder auf und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Wie lange noch werden Sie es tunlichst vermeiden, mich anzusehen?« fragte sie.
»Aber …« stammelte Séraphin, »ich bin Straßenarbeiter …« »Na und? Was heißt das schon? Ist das etwa ein Vorwand, um auf das Leben zu verzichten? Sie scheinen ja solche Vorwände geradezu zu suchen.«
Flink griff sie mit einer Hand in ihren Ausschnitt und zog ein Spitzentaschentuch hervor, das sie auseinanderfaltete. Ein glänzender Schlüssel kam zum Vorschein.
»Nehmen Sie ihn!« befahl Charmaine. »Am Ende der Pergola, zwischen Garage und Wintergarten, befinden sich eine Treppe und eine schmale Tür. Mit diesem Schlüssel können Sie sie öffnen. Sie führt auf den großen Flur. Mein Zimmer liegt … Es ist die erste Tür rechts. Ich werde sie angelehnt lassen und das Nachtlicht nicht abschalten. Ich werde so lange auf Sie warten, wie es nötig sein wird«, sagte sie.
Séraphin starrte wie gebannt auf diesen Schlüssel und die Wölbungen, die
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