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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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an den Leitersprossen fest, bevor sie endlich die Kraft fand, hinunterzusteigen, sich an den Baum zu lehnen und zu warten, bis sich diese merkwürdige und ungewohnte Unruhe, die tief in ihrem Inneren kribbelte, ein wenig gelegt hatte.
    Sie glaubte, es sei Wut, was da in ihr hochkam. Sie schickte sich an, zu Séraphin hochzusteigen, um ihm gründlich die Meinung zu sagen, ihm die Augen auszukratzen, ihm Fußtritte zu versetzen. Aber eigentlich hoffte sie eher, den Mut zu finden, ihn zu zwingen, mit ihr das zu tun, was er mit der anderen getan hatte, ihm alles zu bieten, wonach er verlangte, wenn er nur die andere darüber vergessen würde.
    Es blieb ihr nicht die Zeit, zum ersten Schritt anzusetzen. Séraphin trat aus dem Schuppen, schob im Laufschritt sein Rad an und schwang sich darauf. Er schlug die gleiche Richtung ein wie eben Charmaine und der seit langem verschwundene unbekannte Mann.
    Daraufhin stieg Marie ebenfalls, ohne lang zu überlegen, auf ihr Rad und folgte Séraphin mit einigem Abstand; sie tat es, um sich noch mehr Gewißheit zu verschaffen, wie sie sich einredete, in Wirklichkeit aber, weil sie »mit ihrem Latein am Ende war«, wie ihre Mutter zu sagen pflegte.
    Wie die Sehne eines Bogens, den man gerade entspannt hat, endlos nachschwingt, so erging es Charmaine: Sie vibrierte noch, fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen, ratlos, den widersprüchlichsten Empfindungen ausgeliefert.
    Konnte man sich etwas Lächerlicheres vorstellen als so ein Abenteuer in ihrem Alter? »Hängengelassen zu werden«, dachte sie bei sich, »mitten in diesem verfluchten Dreieck aus Befriedigung, Abklingen des Verlangens und Frustration, wie eine gewöhnliche Anfängerin, wie eine seit Jahren unglücklich verheiratete Frau …« Aber sie wußte, daß im Grunde keines dieser Wörter, die man leichtfertig dahersagt und die die Gefühle nur unzureichend ausdrücken, diesem Strudel gerecht wurde, der sich in ihr bildete. Sie fühlte sich leer, bis ins Innerste erstarrt. Von ihren intimsten Muskelfasern her, denen die Beute brutal entrissen worden war, breitete sich Kälte aus, blühte in ihrem Schoß auf und umschlang krampfartig wie ein Netz von Fangarmen ihren gesamten Körper.
    Es kam ihr vor, als habe sie sich in den Armen eines Liebhabers aus Bronze, einer Statue, eines Trugbilds blaue Flecken geholt …
    »Und überhaupt«, sagte sie zu sich, »dieses Gesicht ohne Falten, ohne jeglichen Ausdruck, das er mir die ganze Zeit gezeigt hat, wo hat er das her?« Sie stellte sich diese Frage mit noch größerer Genauigkeit: »Von wem hat er es? Wer hat ihn damit ausgestattet? Oder besser: Wer hat ihn damit maskiert?« Denn genau das war es, was sie empfand: körperlich jemandem begegnet zu sein, der sich sorgsam hinter einer Maske verbarg. »Patrice …« flüsterte sie. Sie mußte diese ganze nicht enden wollende Nacht abwarten, um ihren Bruder morgen, nach seiner Freilassung, wiedersehen und sich ihm in die Arme werfen zu können. Wenigstens er würde sie in die seinen schließen. Sie würde ihm alles erklären. Sie würde ihm alles sagen. Sie würde ihm diese Frage stellen, die sie schon formulierte, während sie mit hoher Geschwin- digkeit in Richtung Pontradieu fuhr: »Warum ist Séraphin nur dem – unübersehbaren – Geschlecht nach ein Mann? Warum – warum, zum Teufel! – weigert er sich, mich zu lieben?«
    Allein, von sich aus begreift ein Mensch nie, warum man ihn nicht liebt. Patrice, der Freund aus Kindertagen, der Komplize, würde sie darüber hinwegtrösten.
    Vor dem Garagentor bremste sie scharf und stieg aus, um es zu öffnen. Den Motor hatte sie abgewürgt. Charmaine fand Pontradieu in ein seltsames Schweigen gehüllt. Gedankenlos schaute sie nach oben. Die Jalousien ihrer Mutter waren nicht geschlossen. Das Licht war an. Und auch da oben war Licht, hinter der Dachluke, die das Zimmer der Dragonerin erhellte. Beide betrauerten wahrscheinlich den Toten, jede auf ihre Art.
    Charmaine zögerte. Dem Gedanken, sich allein in ihrem Zimmer wiederzufinden, konnte sie wenig Geschmack abgewin- nen. Sie wußte, was geschehen würde: Um ihre Aufgewühltheit abklingen zu lassen, würde sie, noch ganz im Bann von Séraphins Gesicht, das in ihr wie eine vom Dunst vergrößerte Sonne leuchtete, bis zur Erschöpfung die Hand zu Hilfe nehmen, vor ihrem dunklen, tiefen Spiegel, der den richtigen Rahmen für das Bild des Narziß abgab. Nie hatte sie einen Partner gefunden, der einfühlsam genug gewesen wäre, sie dahin zu

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