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Das ermordete Haus

Das ermordete Haus

Titel: Das ermordete Haus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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ihn ihm hin.
    »Nein«, sagte Séraphin.
    »Wenn Sie ihn gesehen hätten!« sollte Marie sechzig Jahre später sagen. »Sogar der Teufel wäre aus Grauen vor ihm zurückgeschreckt! Ein wahrer Blutbrunnen. Selbst die Tränen, die aus seinen Augen flossen, waren rot. Niemals, hören Sie, niemals hätte ich mich ihm nähern können, ohne in Ohnmacht zu fallen, wenn mir seine Seele nicht so teuer gewesen wäre. Und wissen Sie, was ich ihn gefragt habe? Ah! Nur ein Mädchen, ein junges Mädchen konnte diese abscheulichen Fleischfetzen unter dem Hemd vergessen, an denen sich die Hunde gütlich getan hatten. Es war eine furchtbare Willenskraft vonnöten, um nicht daran zu denken, daß das da vor weniger als zwei Stunden eine wirkliche Schönheit gewesen war, die mich vor Eifersucht hatte platzen lassen! Ja, und wissen Sie nun, was ich ihn gefragt habe? Ah? Nur eine Frau war dazu fähig, niemand sonst! Und vor allem«, sollte sie mit erhobenem Zeigefinger hinzufügen, »nur eine gottesfürchtige Frau!«
    »Hast du sie geliebt?« fragte Marie.
    »Nein«, antwortete Séraphin.
    »Mein Gott, sag das nicht! Es muß ihr doch wenigstens irgendwas bleiben! Doch! Du hast sie geliebt!«
    Séraphin schüttelte den Kopf von rechts nach links, ohne mit dem Weinen aufzuhören.
    »Was denn nun? Warum bist du dann hier? Warum weinst du? Warum kniest du? Warum hast du die Hände gefaltet?«
    »Ich habe Mitleid«, murmelte Séraphin.
    »Und um dieses Wort zu hören«, sollte Marie später sagen, »mußte ich mich zu ihm hinunterbeugen. Und dann habe auch ich geweint, wie ein Tier, und ich lag ebenfalls auf Knien, und wir haben nichts mehr gesehen. Der Mond war verschwunden, und wir hatten den Geruch dieses Leichnams in der Nase …
    Und dann, passen Sie auf, dann sind Leute gekommen. Zuerst die Pächter, die von meinen Gewehrschüssen herbeigerufen worden waren. Die Alte, die ich entwaffnet hatte, die hatte sich den Fuß verstaucht, als ich sie umgerissen habe, und dann humpelte sie trotzdem durch die Gegend, und wenn Blicke töten könnten, wäre ich zehnmal gestorben. ›Mein Gewehr! Mein Gewehr!‹ kreischte sie. ›Du hast mein Gewehr kaputtgemacht!‹ Sie war ihr scheißegal, die arme Frau, die von den Hunden zerstückelt worden war. Und dann, hören Sie gut zu, sind massenweise Leute gekommen, die ganze Nacht lang! Und alle, alle haben sie den Kopf weggedreht von Charmaines Leiche und von Séraphin. Und dann, sag ich Ihnen, niemals, hören Sie, niemals!, wäre es möglich gewesen, ihn zum Aufstehen zu bewegen und, noch schlimmer, ihn dazu zu bringen, die gefalteten Hände zu öffnen, um sie behandeln zu lassen. Weder die Gendarmen, das waren sowieso nur zwei, noch der Pächter und sein Sohn und seine Tochter und schon gar nicht der Arzt, der ständig auf ihn einredete: ›Sie werden sich die Tollwut holen! Und den Starrkrampf dazu! Sie werden an Wundbrand sterben!‹ Auf alles antwortete er: ›Na und?‹, und er ließ die Hände gefaltet, und man muß das gesehen haben, wie die aussahen, seine Hände! Drei Fläschchen Annika, die er in seiner Tasche hatte, der Arzt, die konnte er ihm schließlich irgendwie über die Hände schütten. Und ich hab gesehen, daß die Löcher in seinen Händen so groß waren wie die von Zimmer- mannsnägeln und die Risse wie die Knopflöcher einer Jacke. Das Arnika floß da rein wie Wasser in ein Maulwurfsloch beim Gießen! Und Arnika, wissen Sie, wie das ist? Mich hat man bis nach Peyruis brüllen hören, wenn ich auch nur einen Tropfen davon draufbekam, wenn ich mir mal den Finger gequetscht hatte! Und er, drei Fläschchen! Ohne einen Seufzer … Und ich schaute mir sein Gesicht an. Nichts. Er weinte. Leise. Und sein Gesicht – ah! sein schönes Gesicht! – es sah immer noch gleich aus, blutüberströmt, voller Tränen, aber sonst nichts! Nicht ein Schrei. Keine Zuckung. Nichts! Er spürte nichts …
    Und dann, hören Sie gut zu: Zehnmal hat ihn der Arzt dazu aufgefordert, seine Hände zu öffnen. Zehnmal hat er nein und wieder nein gesagt! Selbst die Gendarmen, sage ich Ihnen, haben ihn nicht dazu bringen können, aufzustehen. Er kniete da vor diesem Körper, vor dem, was von ihm übriggeblieben war. Man hätte sagen können, daß er ihn begleitete. Man hätte sagen können … Aber ich rede Unsinn! Und selbst als man ihn wegge- tragen hatte, diesen Körper, kniete er weiter. Die Hände gefaltet vor dieser Leere, wo sie hingefallen war. Ohne ein Wort! Weinend! Und ich, wie eine dumme Gans, auf der

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