Das ermordete Haus
bringen, das Rätsel ihres Verlangens zu lösen, und so hatten alle Feste des Fleisches für sie immer in trauriger Einsamkeit geendet.
Jedoch würde all dies heute abend nicht genügen, um sie der beängstigenden Wirklichkeit zu entreißen. Es blieb ihr nur der übliche eisige Trost: die Weite des Tals am Ende des Parks, das Rauschen der Bäume, das Rascheln der Tiere, die scheinbare Unschuld der Nacht.
Der Mond stand im letzten Viertel, bot aber genügend Licht für einen Spaziergang im Dunkeln. Charmaine bog in die Seitenallee ein. Im Vorbeigehen drückte sie sich lustvoll in die Buchsbäume. Ihr Duft verströmte Trost, rief angenehme Erinnerungen ins Gedächtnis zurück. Zögernd zerrieb sie einige Zweigchen und hielt sie an die Nase.
Die Allee bog ab. Dort hinten war schon das stille Wasser des großen Beckens zu erkennen. Charmaine ging darauf zu, als sie in ihrem Rücken eine rasche Folge gedämpfter Schritte vernahm. Sie wollte sich umdrehen, um zu sehen, wer da so spät und dazu noch so schnell auf sie zukam. Es blieb ihr keine Zeit, ihre Bewegung zu vollenden. Eine gewaltige Masse drückte ihre Schultern nieder. Etwas Zangenähnliches brach ihr das Rückgrat.
Tief über den Lenker gebeugt trat Séraphin wie ein Besessener in die Pedale. Jetzt wollte er von ganzem Herzen Charmaine in seine Arme schließen, was immer sich daraus entwickeln mochte. Die Ungeduld trieb ihn an. Er wollte ihr übers Haar streichen, über den ganzen Kopf mit einer einzigen Bewegung seiner großen Hand. Zu sehen, wie sie aus Dank für diese zärtliche Geste die Augen zu ihm erhob, schien ihm mit einem Mal wichtig. Er war bereit, sich dem Geheimnis seiner Mutter zu stellen für diesen kurzen Augenblick einer Empfindung, von der er hin und wieder gehört hatte und die man »Glück« zu nennen schien. Wie dem auch sei. Er würde einiges erdulden müssen, aber wenigstens einmal in seinem Leben hätte er zu etwas getaugt.
Wie gewöhnlich stieg er bei der Einfahrt ohne Gitter vor der großen Pappel vom Rad. Er versteckte seinen Drahtesel im Straßengraben. Er bog in die Sykomorenallee ein. Es herrschte eine unwirkliche Stille. Das Licht der Mondsichel fiel schräg auf das untere Ende der Baumstämme. Eine leichte Brise kam auf und trug Séraphin den Geruch der Buchsbäume zu, den er so sehr liebte. Durch das lichte Blattwerk sah er Pontradieu. Zwei Fenster waren erleuchtet. War das Charmaines Zimmer? Würde er sie beim Klavierspiel antreffen? Er malte sich aus, wie er sich leise von hinten an sie heranschlich. Er würde ihre Schultern umfassen, ihr die Wahrheit ins Ohr flüstern, ihr den wirklichen Grund mitteilen, der ihn daran hinderte, mit ihr zu schlafen …
Ganz in Gedanken versunken fand er sich an der Kreuzung der beiden Buchsbaumalleen wieder. Dort hinten, in dem vom Mond gezeichneten helldunklen Fleckenmuster, war dicht am Boden eine merkwürdige Wellenbewegung zu sehen. Es sah aus wie ein kleiner Hügel, der gleichsam vor Schauder zuckte und manchmal silbrig schimmerte, wenn er vom Dunkel ins Licht geriet. Vier trübe, opalfarbene Lichtflecken durchlöcherten die dunkle Masse. Séraphin hörte eine Art zufriedenes Knurren und das Geräusch von mächtigen Kiefern, die einen Knochen zermalmten.
Dieses Geräusch hatte eine verheerende Wirkung auf Séraphins Gemüt. Es blieb ihm jedoch keine Zeit, sich seinen Empfindungen zu überlassen. Ein großes Stück aus dieser Masse unbestimmter Zusammensetzung hatte sich aus dem Ganzen gelöst und sprang mit Dreimetersätzen auf ihn zu. Es war ein riesiger Hund.
Ohne zu überlegen rannte Séraphin ihm mit der Schnelligkeit eines Hundertmeterläufers entgegen. Er sah den sich öffnenden Schlund dicht vor sich. Das Tier duckte sich zum Sprung, aber den wartete Séraphin nicht ab. Er stürzte sich auf die Bestie, prallte mitten im Lauf auf sie, mit seinem ganzen Gewicht, mit seinem ganzen Schwung, mit seiner ganzen Wut. Die fünfzig Kilo des Tiers und die fünfundneunzig des Mannes stießen mit voller Wucht und einem dumpfen Geräusch aufeinander. Der Hund zielte auf den Kehlkopf, aber Séraphin war so hoch gesprungen, daß die zuschnappenden Zähne nur an seinem Oberkörper ihre Spuren hinterließen. Betäubt vom Zusammenprall drehte sich der Hund um sich selbst und fiel zu Boden. Tief gebückt fiel Séraphin über ihn her, wie jemand, der sich kopfüber ins Wasser stürzt. Er hörte den Brustkorb des Tieres krachen. Es blieb ihm keine Zeit, Atem zu schöpfen. Ein zweiter riesiger
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