Das ermordete Haus
jetzt gewaltig angeschwollenen Wasserfall auf einen Kilometer Entfernung und darunter, als tiefe Begleitstimme, das Malmen der Mühlsteine.
Die beiden Gebäude, die Mühle und das Bauernhaus, waren über die Grundmauern und über die Schuppen, die Ställe und die Scheunen miteinander verbunden. Trotz des Lärmens des Wassers übertrug sich das dumpfe Dröhnen der Mühlsteine unmittelbar von einem Gebäude zum anderen.
Rose Sépulcre schlief den sanften Schlummer der Verliebten. Als sie dieses vertraute Geräusch hörte, öffnete sie die Augen. Seit ihrer Kindheit hatte es ihre Herbstnächte begleitet, dieses Geräusch, das zu ihrem Lebensunterhalt beitrug. Sie konnte nichts Böses von ihm erwarten. Es war wie ein Pferd, das im Stall aus seiner Raufe frißt. Sie drehte sich auf die andere Seite, versetzte dem Kopfkissen einen Schlag und versuchte, wieder einzuschlafen.
Auf der anderen Seite des großen Bettes brummte Marcelle im Schlaf. Rose wachte vollends auf.
»Aber … Was ist denn jetzt los? Es ist doch noch gar nicht Sankt Katharina.«
»Was ist …?« knurrte Marcelle.
Rose krallte sich in ihren Arm. »Hör doch mal hin!«
»Was soll ich denn hören?«
»Die Mühlsteine …« »Na und?«
»Den Wievielten haben wir?«
»Keine Ahnung! Laß mich gefälligst in Ruhe!«
Rose schüttelte sie kräftig. »Hörst du’s jetzt?«
»Das sind die Mühlsteine«, stammelte Marcelle. »Wahr- scheinlich probiert der Papa sie gerade aus.«
»Blödsinn!« sagte Rose. »Die läßt man nie leer laufen, da geht doch alles kaputt!«
»Na dann wird es eben … dann wird es wohl …« Marcelle wedelte schwach mit der Hand und ließ das Gesicht wieder aufs Kissen fallen.
Rose warf die Daunendecke auf den Boden und schlug das Bettzeug zurück. Sie sprang auf den Bettvorleger und zog Marcelle an den Füßen. »Wach auf, du Transuse! Irgendwas ist da los!« Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln, wickelte sich in ihren Morgenmantel und hielt Marcelle den ihren hin.
»Dumme Gans! Was soll schon los sein? Spinnst du?«
Aber Rose hielt sie fest und schob sie erst auf den Flur und dann die Treppe hinunter. Der dichte Regen ließ sie einen Moment auf der Türschwelle zögern. Drüben, auf der anderen Seite, schimmerte matt durch die Fugen der Tür und durch die schmutzige Scheibe des Fensterchens das schwache Licht der Glühbirne, das durch die öligen Ausdünstungen der infers drang. Die beiden Schwestern rannten hinüber und warfen sich gemeinsam gegen die Tür, öffneten sie weit. Erst jetzt, nach der Regendusche, war Marcelle vollkommen wach.
Sie begriffen nicht sofort, was das für ein schweres rotes Tuch war, das schillernd an den kreisenden Mühlsteinen hing und sie in dem spärlichen Licht wie ein Umhang aus Rubinen umgab.
Ein Geräusch riß sie aus ihrer Erstarrung. Didons rechter Arm war außerhalb der Reichweite der Steine auf den Boden gefallen. In Höhe des Ellbogens war er auf dem Rand des Kollergangs abgebrochen. Die Steine hatten das Fleisch und die Knochen zermalmt, bis er völlig abgetrennt war, und das dumpfe Geräusch entstand, als er durch sein eigenes Gewicht auf die Bodenplatten fiel. Mit weit aufgerissenen Augen starrten die Mädchen auf das Bild, das der abgetrennte Arm bot. Beide stießen sie einen Schrei aus, der den ganzen anderen Lärm übertönte, der das Tosen des Wasserfalls durchbrach, der durch den Regen drang, den festen Schlaf der Térésa jäh beendete und sie auf den Flur stürzen ließ, nur mit einem im Vorbeihasten vom Haken gerissenen Morgenmantel bekleidet. Von neuem ertönte ein Schrei mit derselben Lautstärke, er kam von der Mühle. Die Térésa sah die offene Tür und ihre Töchter davor und Marcelle, die zum Kupplungshebel stürzte, sich gegen ihn stemmte und ihn mit aller Kraft gegen sich zog.
»Ma! Geh nicht rein! Ma, du darfst da nicht reingehen!«
Sie wollten sie zurückdrängen, und der Regen ging ihr bis auf die Haut, und ihre nassen Haare ließen die drei Frauen schon aussehen wie Ertrunkene. Und Térésa schlug blindlings auf ihre Töchter ein und zog sie, die nicht loslassen wollten, hinter sich her bis an die Tür der Mühle.
Sie sah alles. Die Mühlsteine standen still. Didons Arm mit der geöffneten Hand auf den Fliesen schien sie herbeizurufen wie der eines Ertrinkenden. Da stieß auch Térésa einen langen, verzweifelten Schrei aus, hörte nicht mehr auf zu schreien. Sie flüchtete, rannte durch den Regen, rannte die rutschige, in die Erde gegrabene Treppe zur
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