Das ermordete Haus
vollen Flasche ging Didon zurück zum Kollergang. Bevor er wieder hinaufstieg, zögerte er für den Bruchteil eines Augenblicks. Er warf einen Blick auf den halb im Boden versenkten Hebel, der zum Kuppeln des Getriebes diente. »Eigentlich«, sagte er sich, »solltest du die Räder auskuppeln, wo doch jetzt alles in Ordnung ist … Wenn das Einlaßwehr mal brechen sollte …« Er zuckte mit den Schultern. Seit dreißig Jahren hatte er nun immer alles genau gleich gemacht. Warum ausgerechnet dieses Jahr etwas daran ändern? Das Wehr hatte schon so lange gehalten. Es saß sicher in seinen tiefen Schienen, und seine verzapften Eichenplanken setzten seit jeher dem Strom die robuste Trockenheit von alten Familienmöbeln entgegen. Zugegeben, selten hatte der Lauzon so getobt wie in dieser Nacht. Aber wenn man sich mit jeder Kleinigkeit aufhalten wollte …
Er sprang behende in das Gehäuse der Mühlsteine. Er kauerte sich vor der Achse nieder. Er holte ein Schilfröhrchen aus der Tasche und hielt es in die Vertiefung im Stein. Er kippte die Flasche und ließ das Öl langsam, ganz langsam am Röhrchen hinunterfließen. Es war eine langwierige, anstrengende Arbeit direkt im Schatten der überhängenden Mühlsteine, die Didon zwangen, sich zu verrenken, auf den Zehenspitzen zu kauern, wobei das Gleichgewicht durch den abschüssigen Boden des Beckens noch zusätzlich beeinträchtigt wurde. Didon streckte vor Anstrengung die Zunge heraus und dachte an gar nichts mehr.
Da löste sich derjenige von der Wand, der ihn die ganze Zeit durch das Fensterchen unter den Sturzbächen, die von den Regenrinnen herabrauschten, beobachtet hatte. Er stieg die in die Erde gegrabene Treppe hinauf. Er ging in absoluter Dunkel- heit das Gerinne entlang, nicht langsamer als am hellichten Tag. Der Lauzon brauste vor ihm, kam ihm entgegen. Er warf sich gegen den hölzernen Leib des Wehrs und machte dabei den Lärm eines Trommelwirbels. Der Mann setzte die Füße fest auf den Boden rechts und links des Gerinnes. Mit beiden Händen, schnell und ohne zu zögern, packte er die Griffe des Wehrs und zog es in einem Schwung hoch. Mit einer Hand hielt er es, mit der anderen tastete er umher und fand den Stift, den er in die Öffnung schob, so daß das Wehr offengehalten wurde. Nach diesen drei Handgriffen schossen die üppigen Wasser des Stroms wie ein stählerner Arm durch die gründlich gereinigten Kanäle. Lautlos wie eine Schlange schnellten sie voran.
In diesem Augenblick hörte Didon das Geräusch. Das Geräusch, das durch all die anderen hindurchdrang, durch den Lärm des Wasserfalls, durch das Trommeln des Regens, das Rauschen des Blätterschauers, der unter dem Meerwind von den Bäumen niederging, jenes Geräusch, das sich zwischen all die übrigen schlich wie eine kleine Melodie, die von den Holzinstrumenten der Mühle gespielt wurde. Es war das biegsame, geschmeidige Wasser, das, von allen Seiten wohl eingedämmt, sich mit steter Kraft durch die Nußbaumholzkanäle vorwärts schob, das die Sickergruben überflutete, gegen die Schaufeln der Räder schlug, die Kastagnetten der Gegengewichte klickern ließ und das große Zahnrad in kaum spürbare Schwingungen versetzte, bevor es sich langsam, scheinbar Zahn um Zahn, zu drehen begann. Das Wasser übertrug jedoch letztlich die ganze rohe Gewalt des Lauzon auf die mannsbreite, viereckige Achse aus Lärchenholz, auf der die Mühlsteine saßen, jeder eine Tonne schwer. Zwischen diesen Mühlsteinen machte Didon gerade zwei Handgriffe zuviel: Er wischte das Schilfröhrchen ab, das er nächstes Jahr wieder verwenden würde, und er verschloß die Ölflasche. Doch hatte er ebendiese zwei Handgriffe jedes Jahr während der letzten fünfundzwanzig Jahre immer am selben Fleck und unter denselben Umständen getan. Warum hätte er daran etwas ändern sollen? Warum hätte er erst vom Kollergang hinuntersteigen sollen?
Die Verblüffung hielt ihn eine Sekunde zu lange in ihrem Bann. Wohl sah er drüben auf der anderen Seite des Kollergangs den Kupplungshebel sich in seiner Halterung bewegen, doch schnitt ihm in diesem Moment schon der eine Mühlstein den Rückzug ab, und der andere, der exzentrisch auf der Achse angebracht war, traf ihn am Rücken. Durch den Stoß verlor er das Gleichgewicht. Mit dem Geräusch, das entsteht, wenn man ein Insekt zertritt, spritzte sein Körper in alle Richtungen, als er unter den massigen Stein geriet.
Im dichten dunklen Regen hörte man den Lauzon und den sonst so schwächlichen,
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