Das erste Buch der Traeume
dazu, gar nicht oder auf Englisch zu antworten (beziehungsweise ich, Mia konnte zu dem Zeitpunkt noch gar nichts sagen außer »dadada«), und das entsprach so gar nicht seiner Vorstellung einer ordentlichen zweisprachigen Erziehung. Da Lottie anfangs kaum Englisch konnte, mussten wir uns bei ihr immer bemühen, Deutsch zu sprechen, und Papa frohlockte. Bis er feststellte, dass wir auch Lotties Dialekt übernahmen. Spätestens, als Klein-Mia ihm Brokkoli auf das Hemd spuckte und »Des ess i ned, host mi?« zu ihm sagte, war ihm klar, dass sein Plan doch nicht so ganz aufgegangen war.
»Sie können also durchaus als ganzjahrestaugliche Kekse durchgehen.« Lottie machte sich immer noch Sorgen, das Christkind könne ihr die Kipferl übelnehmen. »Natürlich nur in Ausnahmefällen.«
»Wir sind total schwere Ausnahmefälle«, versicherte ihr Mia. »Bedauernswerte Scheidungskinder ohne ein Zuhause und ohne Hoffnung, vollkommen orientierungslos in der großen, fremden Stadt.«
Das war leider kaum übertrieben: Den Heimweg hatten wir nur mit Hilfe freundlicher Passanten und eines netten Busfahrers gefunden. Da wir uns die Hausnummer unseres Übergangsheims nicht gemerkt hatten und die Häuser hier alle gleich aussahen, würden wir wohl immer noch da draußen im strömenden Regen herumirren wie Hänsel und Gretel im Wald, wenn Buttercup nicht oben am Fenster gestanden und wie wild gebellt hätte. Jetzt lag das kluge Tier mit dem Kopf auf meinem Schoß neben mir auf der Kücheneckbank und hoffte, dass ein Vanillekipferl auf wundersame Weise den Weg in sein Maul finden würde.
»Ihr habt es wirklich nicht leicht«, sagte Lottie mit einem tiefen Seufzer, und ich bekam kurzzeitig ein schlechtes Gewissen. Um Lotties Herz ein wenig zu erleichtern, hätten wir ihr erzählen können, dass es in der Schule eigentlich gar nicht so schlimm gewesen war, eher im Gegenteil. Hier war der erste Schultag deutlich besser verlaufen als zum Beispiel in Berkeley, wo diese Mädchengang damit gedroht hatte, meinen Kopf ins Klo zu stecken. (Am ersten Tag hatten sie nur damit gedroht, am fünften hatten sie es dann wirklich getan. Das war übrigens auch der Tag, an dem ich mich zum Kung-Fu-Unterricht angemeldet hatte.) Von diesem und anderen denkwürdigen ersten Schultagen war der heutige weit entfernt. Abgesehen von Persephone und Rasierspaß-Ken waren mir an der Frognal Academy keine Schüler unangenehm aufgefallen, und auch die Lehrer schienen okay zu sein. In keinem Fach hatte ich das Gefühl gehabt, nicht mitkommen zu können, die Französischlehrerin hatte meine Aussprache gelobt, die Klassenräume waren hell und freundlich, und sogar das Schulessen war ziemlich gut gewesen. Anstelle von Persephone hatte sich ganz ungefragt das Mädchen, das in Französisch neben mir gesessen hatte, meiner angenommen, mich mit zum Mittagessen genommen und ihren Freunden vorgestellt. Von ihnen erfuhr ich, dass man das Erbsenpüree meiden sollte und dass der Herbstball schon deshalb eine coole Angelegenheit war, weil dort nach dem steifen offiziellen Teil eine Band auftreten würde, von der ich leider noch nie etwas gehört hatte. Für einen ersten Schultag war es ziemlich gut gelaufen. Bei Mia sogar noch besser.
Ja, das hätten wir Lottie erzählen sollen, aber es tat so gut, bemitleidet und umsorgt zu werden – zumal der Tag noch nicht vorbei war. Das Schlimmste stand uns ja erst noch bevor: das Abendessen in Ernests Haus, bei dem wir seine Tochter und seinen Sohn kennenlernen sollten. Sie waren Zwillinge, siebzehn Jahre alt, und, wenn man Ernests Worten glauben wollte, wahre Ausbünde an Talent und Tugend. Ich hasste sie jetzt schon.
Lottie schien mit ihren Gedanken ebenfalls bei diesem Ereignis zu sein. »Ich habe dir für heute Abend den roten Samtrock und die weiße Bluse rausgehängt, Mia. Und dir habe ich das blaue Teestundenkleid deiner Mutter gebügelt, Liv.«
»Warum nicht gleich das kleine Schwarze mit den Strass-Steinchen?«, spottete ich.
»Ja, und Glacé-Handschuhe«, ergänzte Mia. »Tss. Das ist nur ein doofes Abendessen. An einem ganz gewöhnlichen Montag. Ich ziehe Jeans an.«
»Das kommt gar nicht in Frage«, sagte Lottie. »Ihr werdet euch von eurer besten Seite zeigen.«
»In Mums Teestundenkleid? Was ziehst du denn an, Lottie – dein Festtagsdirndl?« Mia und ich kicherten.
Lottie setzte eine hoheitsvolle Miene auf – beim Thema Dirndl verstand sie noch weniger Spaß als bei den Weihnachtstraditionen. »Das würde ich
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