Das erste der sieben Siegel
toll, dachte Susannah. Wie er so dasteht, den Kopf nach hinten geneigt, die Augen halb geschlossen, wie ein Jazzmusiker, der dem Solo eines anderen Künstlers lauscht, und wenn er sich bewegt, dann auf den Fußballen, wie ein Footballspieler, der sich ein wenig zurückfallen lässt.
Er ist wie eine Katze, dachte Susannah. Ein geschmeidiger Kater.
Solange war gut einsachtzig groß und schlank. Er trug eine verwaschene Jeans, Trekkingschuhe und ein weißes Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Bartstoppeln zeichneten sich als dunkler Schatten auf Kinn und Wangen ab, und sein pechschwarzes Haar hätte mal wieder geschnitten werden können. Achataugen unter buschigen, graumelierten Brauen.
Was für Augen, dachte Susannah. Da kommt seine Macht her – es liegt nicht daran, was er sagt, sondern an der Art, wie er einen ansieht, wenn er es sagt, als wollte er einem zu verstehen geben: Du bist der einzige Mensch, der es versteht, der es wirklich versteht. Und wenn man das hörte oder sah oder spürte, dann, ja, dann war es fast so, als würde man sich verlieben.
Was leicht passieren konnte. Solange war der attraktivste Mann, den Susannah je gesehen hatte – nicht, dass er wirklich gutaussehend war. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne des Wortes. Seine Nase, die er sich vor langer Zeit einmal gebrochen hatte und nie gerichtet worden war, bewahrte ihn davor, ein Schönling zu sein. Die Folge war eine Adlernase, die seinem Gesicht im Zusammenspiel mit den Augen einen raubtierartigen Zug verlieh, selbst wenn er lachte.
Und dann seine Stimme. Tief wie ein Bergwerk, mit leichtem Akzent und einer seltsam betörenden Intonation. Während Susannah ihn reden sah, ihn sprechen hörte, ihn mit ihren Augen spürte, wusste sie, dass sie einen bedeutenden Menschen vor sich hatte. Oder gleich eine Vielzahl von bedeutenden Menschen. Zu verschiedenen Zeiten hatten die Zeitungen ihn mit Hitler, dem Rattenfänger von Hameln, John Muir und Koot Houmi (wer auch immer das war – das wollte sie noch nachschlagen) verglichen.
Und die anderen teilten ihre Gefühle. Wie sie waren alle von Solange fasziniert (und ein ganz klein wenig verängstigt).
Auf der Terrasse waren fünfzehn von Ihnen, dazu der kleine Stephen, Susannah und ihr Guru. Jeder von Ihnen gehörte zum ›Personal‹, was bedeutete, dass sie ihr Leben ganz und gar im Wirkungskreis der Organisation verbrachten. Alle waren sie irgendwann schon einmal auf der Crystal Dragon mitgefahren, und seitdem teilten sie Tisch und Bett miteinander, konspirative Wohnungen und Codes, Geheimnisse und Verbrechen. Sie waren Vollzeitkommunarden, und sie bedeuteten einander alles – Familie, Liebhaber, Schiffsgenossen, Freunde. Sie hatten nur einander und besaßen nichts, bis auf das, was allen gemeinsam gehörte. Selbst die Vergangenheit des Einzelnen gehörte nicht mehr ihm selbst, denn sie alle hatten den gleichen symbolischen Geburtstag – der Tag, an dem sie ins ›Personal‹ aufgenommen worden waren.
Während das Baby an ihrer Brust saugte, wanderten Susannahs Augen von einem zum anderen. Mit Ausnahme ihrer selbst waren alle Anwesenden entweder Abteilungsleiter oder stellvertretende Abteilungsleiter.
Innerhalb des ›Tempels‹ waren diese Leute legendär, und Susannah kannte fast alle von Ihnen. Der hagere Mann mit den nikotingelben Fingern war Saul, der die Abteilung leitete, in der sie selbst arbeitete, nämlich die für besondere Angelegenheiten. Rechts und links von ihm saßen seine Stellvertreter – Antonio, Belinda und Jane –, die für Forschung, Sondereinsätze und Security zuständig waren.
Veroushka, von der es hieß, sie sei Solanges Geliebte, und die so sexy war, dass Tommy behauptete, er könne sie ›quer durchs Zimmer riechen‹, war für Rekrutierung zuständig.
Abgesehen von Veroushka und dem Team von der Abteilung für besondere Angelegenheiten waren die Leiter und stellvertretenden Leiter der Abteilung für Finanzen und Kommunikation anwesend sowie die führenden Köpfe der Verwaltung, der technischen Abteilung und der Rechtsabteilung. Susannah wusste zwar, wer sie waren, kannte aber ihre Namen nicht, zumindest nicht alle.
Und einen der Anwesenden hatte sie überhaupt noch nie gesehen, einen Japaner oder so, der ganz offensichtlich nicht zu ihnen gehörte. Er trug einen dunklen Anzug, weißes Hemd und Krawatte und hielt sich abseits. Ein stiller Beobachter.
»Was ist mit den Eltern?«, fragte Solange.
Belinda wandte sich zu
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