Das erste der sieben Siegel
Fast genoss er es, wenn er in solchen Situationen zusammenschreckte, weil es ihn von seinen Ängsten ablenkte: Er fuhr blind durch einen lärmenden Tunnel, jagte durch den Regen.
Gegen vier Uhr morgens erreichte er Lake Placid. Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Dann war er auch schon auf der anderen Seite der Stadt, fuhr durch die ländliche Gegend, in der er an nur wenigen Häusern vorbeikam. Die älteren standen dicht an der Straße; die neueren lagen zurückgesetzt am Ende langer Zufahrten. Einmal beleuchteten seine Scheinwerfer ein Rudel Rehe in einem Feld, dicht am Straßenrand. Sie standen reglos da, während er näher kam, und dann sprangen sie in die Dunkelheit davon. In keinem der Häuser brannte Licht. Er sah keine Verandaleuchten, nicht das blaue Flimmern eines Fernsehers, gar nichts. Die Landschaft schimmerte unter einem vollen Mond, der das hügelige Terrain seltsam geisterhaft leuchten ließ. Seitdem er die Stadt hinter sich gelassen hatte, war ihm kein einziger Wagen mehr begegnet. Die Leere bedrückte ihn. Ich bin allein auf der Welt, dachte er. Alle anderen sind tot.
Er kam an dem weißen, mit Schindeln verkleideten Haus vorbei, in dem das Besucherzentrum des ›Tempels‹ untergebracht war. Dahinter sah er das Tor zum Anwesen. Er bog von der Straße ab und ließ den Wagen auf eine Grasböschung holpern. Er wusste, dass die Straße, die zum Anwesen hinaufführte, vom Tor und Wachhaus aus zu beobachten war – also wurden die Wagen, die hinein- und hinausfuhren, überwacht; er hatte jedoch noch keine Mauer entdecken können.
Er besaß noch nicht einmal einen groben Plan. Irgendwo, in gebührendem Abstand vorn Tor, würde er in den Wald gehen. Und dann? Er wusste es nicht. Er würde nach Annie suchen. Sie finden. Und nach Hause bringen.
Er trabte an der Straße entlang, durch Adrenalin und Nervenanspannung so auf Hochtouren, dass er sogar das Blut in den Ohren rauschen hörte. Er verließ die Straße und suchte sich einen Weg zwischen den Bäumen. Das Mondlicht war hell, die Bäume silbern und schwarz.
Es war ein Hochwald, ein gut gepflegter Wald, sodass er dank Mondlicht und den weit auseinanderstehenden Bäumen gut vorankam. Der Boden war mit Tannennadeln bedeckt, federnd und weich unter seinen Schritten. Es war so still, dass er das Surren und Knistern der Insekten hören konnte, oder vielleicht waren es Vögel, und dann und wann das Rascheln eines Tieres.
Nach einer Weile wurde der Baumbestand dichter und dunkler. Er ging nun langsam, tastete sich voran. Tiefhängende Zweige streiften ihn, griffen jäh aus der Dunkelheit, packten mit harten Fingern nach seinem Gesicht. Und dann befand er sich unversehens auf einer Lichtung, die nicht bloß eine Lichtung war, sondern auch ein Parkplatz. Kies knirschte unter seinen Schuhen. Der Mond stand tief, doch in seinem letzten Schein sah er Autos, die im schwachen Licht ganz farblos wirkten und in einer ordentlichen Reihe an den Seiten des Rechtecks abgestellt worden waren. Sie sahen bösartig und hart gepanzert aus, wie eine Schlachtreihe aus schwarzen Käfern. Er sah auf die Uhr. Die Leuchtdioden zeigten 5:10 an. Jenseits des Parkplatzes sah er einen Kiespfad, der sich zwischen den Bäumen verlor.
Er folgte diesem Pfad, und kurz darauf trat er auf eine weitere Lichtung, diesmal eine Wiese. Am Horizont sah er einen schwach hellen Streifen, einen zart aprikosenfarbenen Schimmer, entweder der erste Schein der Morgendämmerung oder der Abglanz irgendeiner hellerleuchteten Stadt. Er passierte einen Teich und Tennisplätze. Dann Gebäude – eine Ansammlung weißer Häuser und dahinter größere Umrisse, bei denen es sich, wie er beim Näherkommen feststellte, um alte Backsteingebäude mit Schlafsälen handelte.
Ein Campus. Fast hätte er das Wort laut ausgesprochen, so erleichtert war er, endlich das einordnen zu können, was ihm im Dunkeln so geheimnisvoll erschienen war. Ein Campus. Das half ihm, sich zu orientieren, damit waren die Dinge wieder auf Normalmaß zurechtgerückt. Jetzt fiel ihm auch ein, dass Stern davon gesprochen hatte. Eine alte Privatschule oder etwas in der Art. Der Pfad führte jetzt den Hang hinauf und weitete sich zu einem Weg. Als er den Hügelkamm erreichte, fiel sein staunender Blick auf einen Komplex aus hochmodernen Glas-Stahl-Bauten: eine Fabrik, ein Lager, Bürogebäude. Das Ganze überaus elegant, groß, sauber und offensichtlich sehr teuer – ein kleines Industriegebiet versteckt im Wald. Und aus den Gebäuden
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