Das erste der sieben Siegel
Kohlensäure, die in Franks Nebenhöhlen zischte, Annie, die Beutel, das Pfefferspray –, konnte Frank nicht sagen, doch am Ende standen beide Flaschen leer auf dem Tisch. Es mochten zehn Minuten gewesen sein; es mochten zwei Stunden gewesen sein. Schmerz, so erfuhr er, war eine Landschaft mit ganz eigenen Dimensionen, wo vertraute Zeiteinteilungen wirkungslos waren.
Natürlich ›redete‹ er, und später fragte er sich, warum er sich so lange geziert hatte. Aber es spielte keine Rolle. Die Fragen nahmen kein Ende, und wenn Solange einer Antwort nicht recht traute, landete der Lappen wieder in Franks Mund, und die Pepsi schoss ihm durch die Nase.
Und dann, als Frank schon nicht mehr daran glaubte, hörte Solange auf. »Es reicht«, sagte er scharf, als wollte er die anderen zurechtweisen. Er trat neben Frank und drückte ihm die Schulter. »Es ist vorbei«, sagte er. »Keine Schmerzen mehr. Das war’s. Es ist vorbei.«
Frank wusste, dass er bei Solanges Berührung hätte Widerwillen empfinden müssen, doch stattdessen empfand er Dankbarkeit. Das hätte nicht sein dürfen. Aber er empfand sie nun mal.
»Holt ihnen frische Sachen«, befahl Solange. »Und sagt dem Doc, er soll ihnen irgendwas gegen die Schmerzen geben.« Und dann war er weg.
Eine halbe Stunde später wurden sie durch die Flure geführt wie zwei seltsam zurückhaltende Hausgäste. Man brachte sie in den ehemaligen Ballsaal der Villa, einen großen Raum mit schimmerndem Holzboden und gewölbter Decke, der in ein großes Büro umgewandelt worden war. An den Wänden hingen Graphiken, Karten, Satellitenfotos. Es gab Schreibtische, Computer, Telefone und Reihen von Aktenschränken. Das Pferdelogo war praktisch allgegenwärtig.
Frank und Annie wurden, die Hände auf dem Rücken gefesselt, zu einem Schreibtisch geführt, an dem Solange saß und an einem Computer arbeitete. Er sah nicht auf, als sie näher kamen. Sie blieben stehen und warteten. Über Frank, an einer der korkbezogenen Wände, hingen verblasste Fotografien von Weizenfeldern, die aus der Luft aufgenommen worden waren. Auf jedem Bild war ein Kreis gezogen und in diesen Kreis ein Keil gezeichnet worden. Auf jedem Bild wirkte der Weizen irgendwie geschädigt – entweder war er von einer Krankheit befallen, oder er litt unter Dürre. Die Stärke der Schädigung variierte, von ein paar braunen Flecken auf einem ansonsten gesund wirkenden Getreidefeld bis hin zu einem Feld, das zu einem dunklen Fleck zusammengefallen war, als wäre es geschmolzen. Auf jedem Foto stand ein Datum, und auf den Rändern waren handschriftliche Anmerkungen. Frank betrachtete die Notizen.
Puccina Graminus 272 – 4017/9
Puccina Graminus 181 – 2022/7
Puccina Graminus 101 – 1097/3
Puccina Graminus 56 – 6340/7
Solange hörte auf zu arbeiten und schaltete seinen Computer ab. Er schaute zu Frank und Annie auf und lächelte sie warmherzig an. »Ach, da sind Sie ja. Sie sehen schon viel besser aus.«
»Was ist Puccina Graminus?«, fragte Annie. Ihre Stimme hörte sich seltsam an, fand Frank, irgendwie mechanisch. Das war die Wirkung der Tranquilizer; er nahm an, dass er sich ähnlich anhören würde. Jedenfalls fühlte er sich seltsam, nicht gerade ruhig, aber eigentümlich losgelöst, als spielte er, er selbst zu sein.
»Getreideschwarzrost«, sagte Solange. Er deutete auf die Fotos. »Das sind relativ frühe Feldversuche. Wir sind wie Pferdezüchter. Wir versuchen, die schnellste und beste Variante von Puccina Graminus zu kreieren. Bislang ist seehsundfünfzig unser Derbysieger, aber es ist ja noch nicht aller Tage Abend. Neben dem Schwarzrost arbeiten wir auch mit verschiedenen Mais- und Reisschädlingen. Das sind die wichtigsten Pflanzen für die Welternährung.«
Annie runzelte die Stirn und warf Frank einen raschen Blick zu. Trotz ihrer hohlen Stimme, trotz der deutlichen Spuren ihrer Qual machte ihm die wache Lebendigkeit in ihren Augen neuen Mut. Ansonsten sah sie aus, als wäre sie etliche Tage auf einem Rettungsfloß getrieben. Ihre Haut war rissig und gerötet, sie hatte Blasen an den Lippen und rotgeränderte Augen. »Aber warum?«, fragte sie. »Warum machen Sie das?«
»Um das Gleichgewicht wiederherzustellen«, erwiderte Solange. »Um für Mutter Natur etwas in die Waagschale zu werfen, gegen eine Spezies, die dieses Gleichgewicht zuungunsten aller anderen aus den Fugen gebracht hat. Sie sind Wissenschaftlerin. Sie sollten das verstehen.
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