Das erste der sieben Siegel
in den Kühlraum aufs Schiff gebracht.
Er nahm die filzbezogenen Gewichte von den Ecken und sah zu, wie sich das Foto zu einem Zylinder zusammenrollte. Die Mitarbeiterin rollte es gekonnt so eng zusammen, dass es in die Kartonröhre mit dem Panoptikon-Logo darauf passte. Sie drückte eine Plastikkappe auf das offene Ende und schrieb eine Rechnung über 289,46 Dollar.
Er war schon auf halbem Weg nach Hause, als ihm die Erleuchtung kam. Irgendwo in Bandarland, kurz vor der Chain Bridge Road, dachte er: Moment mal – und trat auf die Bremse. Der Typ hinter ihm flippte aus, aber Frank wendete bereits und fuhr zurück nach Herndon.
»Ich möchte noch was probieren«, sagte er zu der Mitarbeiterin.
»Wie bitte?«
»Dieselben Koordinaten, nur einen Monat früher. Achtundzwanzigster Februar, so um den Dreh …«
Sie blickte ihn an, zuckte die Achseln und tippte auf ihrer Tastatur.
Eine halbe Stunde später schaute er auf das zweite Foto – genau das gleiche wie das erste, aber ohne den Hubschrauber, Annie und ihre Freunde.
Er schob die Lupe über den Friedhof. Die dunklen Aufwerfungen waren da, der Stapel Särge. Er sah auf das Datum, nur sicherheitshalber und um sich zu vergewissern, dass die Mitarbeiterin ihn nicht missverstanden hatte. Aber da stand es: 11.47, 28. Februar 1998. Als Annie und Kicklighter noch in den Vereinigten Staaten waren. Und dennoch – die Leichen waren bereits verschwunden und die Särge auf einen Haufen gestapelt.
Weil ihm diese Möglichkeit plötzlich klar geworden war, hatte er vor der Chain Bridge kehrtgemacht. Bis dahin hatte er für alles eine einleuchtende Erklärung gefunden. Vorzeitige Ankunft in Hammerfest? Na ja, dann war in Kopervik wohl alles schneller gegangen als erwartet.
Was ihn schließlich stutzig gemacht hatte, waren die Särge. Wie sie dagelegen hatten, in einem unordentlichen Haufen. Annie hatte ihm erzählt, wie aufwendig es gewesen war, die Erlaubnis für die Exhumierung zu erhalten. Zunächst hatte sie die Bergleute identifizieren müssen, ihre Familien auffinden, sich mit ihnen in Verbindung setzen, um die Einwilligung für die Ausgrabung ihrer Angehörigen einzuholen, dann die lutherische Kirche überzeugen, dass es im öffentlichen Interesse liege, ihren Friedhof aufzureißen. Er wusste, dass die sterblichen Überreste der Bergleute, sobald die NIH ihre Arbeit abgeschlossen hatten, schließlich wieder auf dem Festland bestattet werden sollten.
Es war alles so korrekt abgelaufen und schon fast übertrieben pietätvoll. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Annie so behutsam vorgehen und dann die Särge auf einen Haufen werfen würde wie ausrangiertes Holz.
Jemand anders war also zuerst in Kopervik gewesen. Und hatte die Bergleute mitgenommen. Er dachte kurz darüber nach, ging dann noch einmal zu der Mitarbeiterin.
»Dritte Runde«, sagte er. »Einen Monat früher. Zwanzigster Januar wäre schein.«
Sie blickte ihn an. »Also wissen Sie – die wenigsten Leute werden hierbei nicht süchtig.« Sie tippte das neue Datum in ihren Computer ein und schüttelte den Kopf. »Ich würde jedenfalls nicht den Januar nehmen – nicht auf diesem Breitengrad. Es sei denn, Sie sind an Infrarotaufnahmen interessiert.«
»Wieso?«
»Da ist es dunkel, den ganzen Tag. Wenn da Lichter wären, könnten Sie sie erkennen, aber –«
Frank schüttelte den Kopf. »Nein, es ist eine Geisterstadt.«
»Also …?«
»Versuchen Sie den zwanzigsten November.«
Als er drei Stunden später fertig war, belief sich die Rechnung auf zweitausendachthundert Dollar.
Er war immer einen Monat weiter zurückgegangen, bis er das gefunden hatte, was, wie er wusste, da sein musste: die Schneedecke unberührt, die Gräber intakt. Das Datum war der 20. August 1997.
Damit war klar, dass die Leichen zwischen dem 20. August und dem 20. September aus den Gräbern geholt worden waren, denn an letzterem Datum sah der Friedhof genauso aus wie in den folgenden Monaten bis zu Annies Ankunft mit dem Hubschrauber.
Sobald er den zeitlichen Rahmen kannte, musste er nur noch den genauen Tag der Exhumierung eingrenzen, der sich schließlich als der 9. September herausstellte.
Auf dem Friedhof stand ein kleiner Kran, ein Schneemobil und ein rechteckiges Zelt. Hinter der Kirche stand ein Hubschrauber, und auf dem Friedhof befanden sich etwa ein Dutzend Leute. So oft und so angestrengt er auch durch die Lupe schaute, er konnte einfach keine der verschwommenen und grobkörnigen Gestalten
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