Das Erste Horn: Das Geheimnis von Askir 1 (German Edition)
in Richtung Brunnenhaus führte, das nur als ein Hügel im weißen Schnee zu erkennen war. Weit ging der Graben nicht, nur wenige Meter, aber genug, dass man unter dem Stalldach hervortreten und nach oben schauen konnte.
Als wir im Stall ankamen, waren nur zwei Personen im Graben, um sich den Himmel anzusehen, Janos, der Bandit, und Sternheim. Die beiden unterhielten sich dort, als wären sie sich bestens bekannt.
Die anderen, rotwangig und mit Frost in Haar, Bart und Wimpern, hatten sich vom Loch in der Eiswand zurückgezogen, weitere hielten sich in der Nähe der Tiere auf.
»Es ist wunderschön«, sagte Leandra leise und betrachtete die Wand aus gebogenem Eis. Ich gab ihr Recht, auch wenn es mir ironisch schien, dass das, was uns umbringen konnte, derart ästhetisch und erhaben sein sollte. Die Hand der Götter war in diesen glitzernden Bögen zu erkennen.
»Kommt«, sagte ich zu dem Händler und ging voran in den Graben. Der Himmel über uns war von tiefstem Blau. Wie hingehängt für uns, wirkten die beiden Monde, zwei fahle Sicheln, die ich selten in solcher Klarheit erblickt hatte.
Die Kälte erschien wie eine unbarmherzige Hand; in wenigen Sekunden hatte sie mich fest im Griff, ließ Wimpern und Haar in feinem grauen Frost erstarren. Nach drei Schritten spannte die Haut meines Gesichts. Janos und Sternheim musterten uns wortlos. Ich ignorierte sie. Ich hatte in meiner Erinnerung Recht behalten. Blickte man von hier nach Norden, konnte man die weißen Berge sehen – wie ein tiefes V ruhte der Pass zwischen den hohen Spitzen.
»Seht«, sagte ich zu Rigurd. Nicht nur er, sondern auch Janos und Sternheim folgten meinem deutenden Finger.
Das V war von einer grauen Wand erfüllt. Dieses Grau wuchs über die Spitzen der Berge empor, wo sich waagerechte dunklere Schlieren abzeichneten. Ich drehte mich langsam um die eigene Achse, mein Finger beschrieb einen Kreis und deutete dabei immer auf die gleiche graue Wand. Sie hatte uns umzingelt.
»Wir befinden uns im Auge des Sturms«, teilte ich dem Händler mit, der fassungslos meinem Finger folgte.
»Man sagt, dass so die Götter besser sehen können, was der Sturm anrichtet«, sagte Sternheim trocken.
»Aber die Wand bewegt sich nicht. Was geschieht hier?«, fragte der Händler leise.
»Was hier geschieht, weiß ich auch nicht«, antwortete ich ihm. Ich sah auf zu dem klaren blauen Himmel, in dem die Sterne funkelten, als könne man hingreifen und sie herunterholen.
»Spürt Ihr diese Kälte?«
»Das lässt sich ja wohl kaum vermeiden.«
»Schon bemerkt, dass in einer sternenklaren Nacht die Kälte stärker wird?« Er nickte langsam. Sowohl Janos als auch Sternheim sahen mich fasziniert an.
»Solange der Sturm sich nicht bewegt, wird die Kälte stärker. Er saugt die Wärme und die Feuchtigkeit aus seinem Inneren. Es nährt ihn. Es wird kälter und kälter werden, vielleicht so kalt, dass die Luft selbst gefriert.«
»Ist das möglich?« Es war überraschenderweise Janos, der sich an mich richtete.
»Fragt die Maestra. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines: Niemals in meinen Jahren habe ich einen solchen Sturm gesehen.« Ich wandte mich an den Räuberhauptmann und die Wache. »Hat er sich bewegt, seitdem ihr mit dem Graben angefangen habt?«
Sie sahen sich an, schauten auf zur grauen Mauer, wieder zurück zu mir und schüttelten den Kopf.
Ich hob meine Hand und hauchte sie an, sah zu, wie sich der feine Frost auf meiner Haut niederschlug. Ich schloss sie wieder, sie fühlte sich bereits steif an. Kein Windhauch ging, es war absolut still. Überhaupt war es ungewohnt ruhig, selbst die Tiere in der Stallung gaben keinen Laut von sich.
»Wir werden schon noch erfahren, warum Soltar für die schlimmsten Mörder und Verräter eine Hölle aus Eis bereithält«, sagte ich. Ich warf einen Blick in Janos’ Richtung. Dieser schaute ausdruckslos zurück.
»Woher wollt Ihr das alles wissen?«, fragte mich schließlich Sternheim.
»Manches hat man schon mal erlebt und kommt so in den Genuss, bereits vorher zu wissen, was einen später umbringen wird.«
»Kein Sturm wird mich töten«, zischte Janos. Seine Augen glitzerten herausfordernd unter den vereisten Augenbrauen.
»Ich habe auch nicht die Absicht zu sterben.« Ich wusste nicht, warum ich ihm das sagte. »Aber man weiß nie, was geschehen wird.« Damit begab ich mich wieder durch den Graben zurück zum Stall. Vorhin waren mir die Stallungen noch kühl erschienen, jetzt aber fühlten sie sich an wie
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