Das erste Jahr ihrer Ehe
zur Mitte des Gletschers kamen. Da merkte ich plötzlich, dass irgendetwas passierte. Mehrere aus der Gruppe fingen an zu schreien. Diana hatte sich vom Seil losgemacht. Sie ging ein Stück über uns und hackte sich mit den Stiefeln selbst ihre Stufen ins Eis.«
»Sie war überhaupt nicht mehr angeseilt?«
»Nein. Sie wollte vorwärtskommen, wie immer. Das Tempo des Führers hat sie genervt. Als ich hinaufschaute und begriff, was sie vorhatte, überholte sie gerade den Führer, war dabei aber ungefähr drei Meter höher als er.« Margaret schüttelte den Kopf. »Dann verlor sie das Gleichgewicht und rutschte ab. Ich weiß nicht einmal genau, was ich gesehen habe und was nicht. Ich bin ziemlich sicher, dass ich sah, wie der Führer vorschnellte, um sie an ihrer Kapuze zu packen. Aber er verfehlte sie, ich kann es immer noch nicht glauben. Diana rutschte ihm einfach davon. Es war entsetzlich, Rafiq. Grauenhaft. Wir fielen alle auf die Knie, und Arthur heulte vor Schmerz. Er war wie wahnsinnig. Ich war sicher, dass er aufspringen und uns alle mit sich reißen würde. Wir mussten zusehen, wie Diana das Eis hinunterrutschte. Es gab kein Halten. Es war so, als wäre man im Zimmer eines Hochhauses mit einer Gruppe von Leuten zusammen und einer von ihnen würde plötzlich das Fenster aufreißen, auf das Fensterbrett steigen und springen, noch ehe man Halt rufen kann.«
»Ich habe von dieser Geschichte gehört«, sagte Rafiq.
»Ja?«
»Es stand in der Zeitung. Es hieß nur, dass bei einer Tour auf den Mount Kenya eine weiße Kenianerin auf dem Gletscher umgekommen sei. Ich nehme an, es war diese Frau.«
»Wann haben Sie das gelesen?«
»Ich weiß nicht mehr genau – letzten Januar oder Februar.«
»Ja, das war Diana.«
»Wie schrecklich, das tut mir wirklich leid.«
»Ich musste Ihnen das jetzt einfach erzählen«, sagte Margaret. »Ich glaube, dass ich an Dianas Tod schuld bin.«
Rafiq sagte nichts.
»Diana war ungeduldig, die vorsichtige Gangart des Führers ging ihr auf die Nerven. Okay. Aber ich glaube nicht, dass sie sich vom Seil losgemacht hätte, wenn sie nicht total in Rage gewesen wäre.«
»In Rage?«
»Ja, über das, was sie zwischen mir und Arthur gesehen zu haben glaubte. Es ist wahr, dass er ein bisschen um mich herumscharwenzelt ist. Und ich habe ihn meine Hand halten lassen. Aber es war nichts zwischen uns. Ganz im Gegenteil. Ich hatte immer ein wenig Angst vor ihm. Er war so sprunghaft – er konnte unglaublich liebenswürdig und im nächsten Moment schrecklich herablassend sein. Ich habe es aber zugelassen, dass er meine Hand hielt. Ich habe meine Hand nicht weggezogen. Das hat Diana gesehen.«
»Daher die Rage.«
»Ja.«
»Ich glaube, das spielt sich alles nur in Ihrem Kopf ab, Margaret. Wirklich.«
»Nein, Rafiq, das stimmt nicht. Andere geben mir auch die Schuld.«
»Wer?«
»Saartje zum Beispiel. Sie sagte es mir noch oben am Berg praktisch ins Gesicht.«
Rafiq schenkte ihnen beiden heißen Tee nach. »Dann sollten Sie meiner Meinung nach noch einmal mit ihr darüber sprechen.«
»Das geht nicht. Sie hat das Land verlassen. Arthur ebenfalls. Aber nach der Trauerfeier, bei der ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, hat er mich angesehen. Es war ein unmissverständlicher Blick. Wir haben kein Wort miteinander gesprochen, aber ich bin überzeugt, er wollte sagen, dass wir beide schuld sind.«
»Und Ihr Mann?«
»Das ist das Schreckliche«, sagte Margaret, der bewusst war, dass sie soeben eine Grenze überschritt, indem sie von ihrer Ehe sprach. »Auf dem Berg hat Patrick einen furchtbaren Schrei ausgestoßen. Der Schrei galt Diana, aber das Übrige galt uns, unserer Ehe. Am nächsten Morgen beim Frühstück eröffnete er mir, dass er mich für schuldig hält.«
»Margaret.«
»Es ist kompliziert, und ich will nicht behaupten, dass Patrick nicht gute Gründe hatte. Die hatte er. Das war ja das Schreckliche daran.«
»Aber das liegt doch jetzt hinter Ihnen.«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Margaret. »Unsere Ehe hat einen Knacks bekommen. Ich versuche seither, es irgendwie wieder in Ordnung zu bringen, und ich glaube, auch Patrick versucht es von Zeit zu Zeit. Aber das Gift sitzt so tief, dass ich nicht weiß, ob wir es schaffen.«
»Eine Ehe kann auf Grund laufen und es trotzdem wert sein, gerettet zu werden«, sagte Rafiq.
»Woher wissen Sie das? Waren Sie verheiratet?«
Rafiq schüttelte den Kopf. »Viele Verwandte. Viele Ehen.«
Margaret nickte.
»Wenn jetzt nicht
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