Das erste Mal und immer wieder
das Kind im Feindgebiet und ließ mir jede denkbare Demütigung, ohne mit der Wimper zu zucken, bieten. Immer unwohler fühlte ich mich nun in meinem Dorf, wurde von allen beobachtet und bespitzelt. Mir wurde klar, dass es so nicht weitergehen konnte, und ich fing an zu begreifen, dass ich selber am meisten Schuld daran trug. Dieser Gedanke und die Sehnsucht nach meinem Sohn rissen mich letztendlich aus meiner Lethargie und dem Wirrwarr der Gefühle.
Sechs Wochen nach meiner Rückkehr starb meine Mutter. Die Kirchenglocken im Dorf ließen alle wissen, dass sie »gegangen« war. Die letzten Tage hatte sie mich nicht mehr erkannt und mich für ihre Mutter gehalten. Mein Bruder kam nach Hause, es gab eine große, feierliche Beerdigung. So viele Menschen hatten sie gekannt und geliebt, es gab keinen Zweifel daran, dass meine Mutter von vielen geachtet und geschätzt worden war. Ich war vor Traurigkeit und Einsamkeit wie gelähmt. Gleichzeitig war es der letzte Tag, an dem ich mein einstiges Elternhaus betrat. Mein Bruder war furchtbar erschrocken über meinen phlegmatischen Zustand und schlug mir vor, erst mal bei ihm zu wohnen. Hilfe konnte er gebrauchen, und mir war der Wohnortwechsel mehr als recht.
Um meine Habseligkeiten zu verstauen, musste ich nicht einmal den Kofferraum öffnen. Es lag alles verpackt in nur zwei Tüten auf der Rückbank. Ich tankte genau für 10 DM, das restliche Geld, das ich noch hatte, schmiss die Haustürschlüssel einfach bei dem Vermieter in den Briefkasten und fuhr los. Auf der Autobahn überkam mich ein wahnsinniges Glücksgefühl. Ich redete mir ein, dies sei die beste Lösung, und war mir sicher, dass nun alles bald gut würde. Und noch was fiel mir ein. Ich dachte an Stefan, der dort wäre, und gestand mir ein, dass ich viel öfter an ihn gedacht hatte, als es der Situation angemessen war.
Ich erledigte Behördengänge, um alle wissen zu lassen, wo ich jetzt wohnte. Auch suchte ich das dortige Jugendamt auf, um den Kampf um meinen Sohn wiederaufzunehmen. Mir fiel auf, dass ich ungewohnt müde war und meine Regel mehr als acht Wochen ausgeblieben war. Ich schob das auf den ganzen Stress, verabredete aber trotzdem einen Termin beim Arzt. Auf die Idee, schwanger zu sein, wäre ich zu diesem Zeitpunkt nicht gekommen.
Stefan traf ich wieder. Da ich keine Telefonnummer von ihm hatte, auch keine genaue Erinnerung, wo er eigentlich wohnte, musste ich warten, bis er eines Abends an der Theke auftauchte. Ungeduldig wartete ich, bis er eines Abends endlich vor mir stand, groß, breitschultrig und mit seinen blauen Augen! Ich freute mich so sehr. Er war überrascht, mich dort vorzufinden, und ich klärte ihn auf. Es wurde kein langes Gespräch, er murmelte etwas von einer Verabredung mit einem Freund. »Sehen wir uns bald?«, fragte ich ihn. Er verzog sein Gesicht. »Nun ja, ich werde die nächsten Wochen nur wenig Zeit haben.« Ich war geschockt. Hatte ich mir nur eingebildet, dass er mich auch wiedersehen wollte? War alles für ihn vielleicht unbedeutend und längst vergessen?
Als ich viel später allein in meinem Bett lag, sah ich sie wieder vor mir, die stahlblauen Augen. Aber jetzt waren sie sehr viel undeutlicher und verschwommener. Über sie hatte das Leben einen dicken Stempel gedruckt: One-Night-Stand. So lenkte ich meine Gedanken wieder zu meinem Sohn und schlief, mit ihm im Schlaf verbunden, schließlich doch noch zufrieden ein. Nicht ahnend, dass mein Schicksal seine Kugel längst erneut ins Spiel geschossen hatte.
Früh ging ich am nächsten Tag zum Arzt. Anmelden, warten, warten, warten. Meine Gedanken wanderten umher. Zu meiner Mutter, die ich so sehr vermisste. Zu meinem Sohn, der mir endlos weit weg erschien. Und zu meiner verlorenen Liebe: Jörg. Mittlerweile empfand ich gar nichts mehr. Nur Wut, Hass und Schmerz, wenn ich an ihn dachte. Und ich dachte an Stefan, meine neueste Schlappe, und fragte mich, wann endlich Ruhe einkehren würde. Wann ich endlich reif und erwachsen genug wäre, mein Leben sicher in der Hand zu haben, und wie so ein geordnetes Leben aussehen könnte.
Zehn Minuten später schlugen die Worte des Arztes wie eine Bombe in mein verkorkstes Leben: »Ich gratuliere! Sie erwarten ein Kind.« – »Was, waaaaas?«, fassungslos starrte ich ihn an. »Aber, aber. Sie wissen doch sicher, wie so etwas passiert? Oder ist es vielleicht kein guter Zeitpunkt?« Ich bekam kein Wort heraus. »Wann?«, fragte ich ihn, obwohl mir sofort klar war, wer der Vater sein
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