Das erste Schwert
Sinn. Mehr noch – es wollte ihm so vorkommen, als hätten diese Regeln
nicht nur für Kämpfer Gültigkeit, sondern für nahezu jedes menschliche Mit- oder Gegeneinander. Alle, außer Regel Nummer zwei.
Schon die Vorstellung, andere Menschen durch einen Überraschungsangriff zu überrumpeln und kampfunfähig zu machen, noch
bevor
sie an Streit oder Kampf auch nur dachten, widerstrebte ihm zutiefst. Die Krieger in den Büchern, die er gelesen hatte, taten
so etwas
niemals.
»Regel Nummer vier«, sagte Kara. »Und die Allerwichtigste für heute. Ein Kämpfer kämpft nur, wenn es nötig ist. Fangt niemals
einen Kampf an, es sei denn, er lässt sich nicht vermeiden.«
Sie hob den Spieß und schnupperte an dem Hasenfleisch – als gebe es nun nichts Wichtigeres mehr.
Skip zählte im Stillen die Regeln noch einmal auf: Erstens: Niemals die Geduld verlieren; zweitens: Kämpfen um zu siegen;
drittens: Ruhe und Gelassenheit bewahren; und viertens: Nur dann kämpfen, wenn es nötig ist. Sie alle machten Sinn. Auf gewisse
Art und Weise. Nur die letzte Regel bereitete ihm Kopfzerbrechen – machte sie die anderen doch scheinbar überflüssig. Bislang
hatte es in Skips Leben kaum einmal eine Situation gegeben, in der ein Kampf vermeidbar gewesen wäre. Gut, davonlaufen konnte
man immer. Aber |315| wie lernte man kämpfen, wenn es den Kampf um jeden Preis zu vermeiden galt?
Wie hatte Kara unter der Herrschaft dieser Regeln eine so überragende Kämpferin werden können?
»Ist das alles?«, fauchte Ellah und griff sich an den Kopf.
»Für heute schon.«
»Ich dachte, wir lernen, wie man kämpft!«
»Das habt ihr.«
»Mit Worten?«
Kara wandte sich vom Feuer ab und schleuderte Ellah einen Blick zu, der sie einen Schritt weit zurückweichen ließ. Kurz mischte
sich der Geruch kalten Angstschweißes mit dem Rauch des Feuers.
»Dank ihrer
Bedeutung
«, sagte Kara beiläufig. Sie hob den Hasen von der Glut, rammte den Bratspieß in den Boden, hielt wie durch Zauberei ihren
Dolch in der Rechten und zerlegte das Tier mit geübten Schnitten.
»Hat einer von euch Hunger?«, erkundigte sie sich.
Das musste sie kein zweites Mal fragen.
Das Fleisch war zum genau richtigen Zeitpunkt vom Feuer genommen worden – gut durchgebraten und salzig und umhüllt von einer
Gewürzkruste, die dem normalerweise so schlichten Hasenfleisch einen herrlich exotischen Geschmack verlieh, mundete es einfach
köstlich. Skip widmete sich seiner Portion; doch damit nicht genug: Über allem empfand er jetzt nur noch mehr für Kara. Abgesehen
von ihrem Aussehen und ihren kämpferischen Fähigkeiten war sie obendrein noch die beste Köchin der Welt – neben Meisterin
Marfa natürlich; nur dass Kara ihr Essen auch noch selbst jagte und erlegte. Dass sie eine solche Reisegefährtin hatten! Er
konnte ihr Glück kaum fassen. Es kam ihm kaum zu Bewusstsein, dass er den letzten zarten, wunderbaren Fleischhappen ganz ohne
angemessene Würdigung in den Mund schob, kaute und schluckte. Er hätte endlos so weiterschmausen |316| können! Doch der ordentlich in vier gleich große Stücke zerteilte Hase war verzehrt.
Kara breitete bereits ihre Decke aus. »Wir stehen früh auf«, sagte sie ihnen. »Wir müssen den Fluss morgen vor Einbruch der
Dunkelheit überqueren.«
Skips Herz schmerzte wie unter einem Stich. Morgen also stand es ihm bevor, die Wasser des Elligar vom einen Ufer zum anderen
zu durchqueren. Noch dazu auf eigenen Füßen! Sein Leben hing davon ab. Er brachte es nicht über sich, Kara seine Angst einzugestehen;
dieser Erniedrigung wollte er sich nicht aussetzen.
So entschied er, diese Gedanken beiseite zu tun, bis die Zeit gekommen war. Zusammen mit den noch weit beängstigenderen Gedanken
daran, dass Jaimir am
Westufer
des Elligar lag. Wenn sie den Fluss morgen also ostwärts überquerten, stand ihnen, sobald sie Jaimir erreichten, dasselbe
noch einmal bevor.
Er fiel in einen unruhigen Schlaf und tauchte in einen weiteren Alptraum ein. Wasser stieg rings um ihn herum an, Wellen schlugen
über seinem Kopf zusammen, ein ungeheurer Druck erstickte ihn. Himmelhoch ragte der kahlköpfige Priester mit der Narbe über
ihm auf und krächzte: »Das letzte Mal übergaben wir den Bastard den Flammen. Nun lasst uns zusehen, wie er ersäuft.«
Skip stöhnte im Schlaf und sank tiefer, und die schnell fließenden Wasser trugen seine leblose Gestalt zurück in die Waldlande
und geradewegs hinein ins Herz des
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