Das erste Schwert
Diamant-Assassine ist, von dem der sterbende Edelmann sprach? Erle –
er hat nach
uns
gefragt!«
»Er muss uns mit jemandem verwechseln«, wehrte Erle ab, doch sehr überzeugend klang seine Stimme nicht.
»Verschwinden wir von hier!«, drängte Skip ihn.
Sie wandten dem Gasthof den Rücken und gingen eiligen Schrittes die Straße entlang.
Während ihrer Abwesenheit hatte sich die Stimmung in Baba Yagnas Hütte einschneidend verändert. Frau Vassa und Galina waren
gegangen. Baba Yagna und Ellah eilten mit einem Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf dem Gesicht im Haus umher.
»Shal Addim sei Dank!«, rief Baba Yagna, als sie Erle und Skip erblickte. »Was ist geschehen? Euer Vater ist außer sich vor
Sorge!«
Sie zog den Vorhang beiseite, welcher den kleinen Raum mit Vaters Bettstatt hinter dem Ofen verbarg.
Vater sah besser aus. Er war nicht mehr ganz so blass, und die Blutergüsse in seinem Gesicht schienen abzuschwellen. Er saß,
ein nasses Tuch auf der Stirn, den Rücken gegen einen Kissenstapel gestützt, aufrecht im Bett. Jetzt, da er Skip |117| und Erle eintreten sah, brachte er sogar ein Lächeln zustande. »Habt ihr’s gefunden?«, fragte er.
Skip zerrte das Schwert aus dem Bündel auf seinem Rücken. In der Aufregung hatte er es gänzlich vergessen.
Erleichterung entspannte die Miene des Vaters. Er streckte die Hand aus und nahm die Waffe an sich. Der dunkle Glanz des Stahls
spiegelte sich in seinem Gesicht – doch nur einen Lidschlag lang.
Sie saßen an seinem Bett und beobachteten, wie er mit der Hand über die Klinge fuhr.
»Es liegt schon eine Weile zurück«, sagte er versunken, »dass ich dieses Schwert in Händen hielt. Mein ganzes Leben lang wollte
ich solch eine Waffe schmieden. Doch es gibt nichts Ebenbürtiges für den echten algarianischen Stahl.«
»Was ist das für ein Schwert?«, fragte Skip. »Woher hast du es?«
Der Schmied hob den Kopf und bedachte Skip mit einem durchdringenden Blick. »Das ist eine lange Geschichte, Sohn«, antwortete
er. »Und eine, die besser ein andermal erzählt wird. Dort, wo du hingehst, ist es das Beste, wenn du nichts davon weißt.«
»Ich geh’ weg?«, fragte Skip verdutzt.
»Wohin?«, hakte Erle nach.
Vater schaute von ihm zu Erle und wieder zurück. Für die Dauer weniger Atemzüge schienen Tränen in seinen Augen zu glitzern.
Doch in siebzehn Jahren hatte Skip seinen Vater kein einziges Mal weinen sehen.
»Du und Erle«, flüsterte der Schmied, »ihr müsst zu den Steinernen Graten reisen und dieses Schwert den Bewahrern bringen.«
»Steinerne Grate?«
»Bewahrer?«
»Was für ein seltsamer, geheimnisvoller Name, Onkel Kyth«, warf Ellah ein, und die unausgesprochene Frage |118| schwang nur zu deutlich in ihrer mühsam beherrschten Stimme mit.
Er sah sie an, kurz nur. »Ein Orden, noch vor dem Anbruch der Dunklen Zeiten gegründet. Anfangs waren die Bewahrer Teil der
Kirche. Aber dann muss etwas geschehen sein … denn fortan gingen sie ihrer eigenen Wege. Woher der Name des Ordens kommt und was sie bewahren sollen, weiß niemand.«
»Und die Kirche hat sie geächtet?«, wollte Ellah gebannt dreinschauend wissen.
Er schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Es ist komplizierter. Ihre Mutter Bewahrerin und Seine Heiligkeit Haghos mögen sich
nicht sonderlich, habe ich gehört. Und sie weben einige Geheimnisse um sich. So ist die Weiße Zitadelle zwar das Herz ihres
Ordens, doch niemand weiß genau, wo sie liegt. Irgendwo in der Felsenwildnis der Steinernen Grate, so heißt es.«
»Wie sollen wir sie dann finden?«, fragte Erle beinahe schroff. Der Gedanke, Eichenhain zu verlassen und eine gefahrvolle
Reise ins Unbekannte anzutreten, begeisterte ihn genauso wie Skip – nämlich überhaupt nicht.
Vater schaute ihn nur an. Dann wickelte er – mit zögernden Bewegungen, da seine Finger noch angeschwollen waren – das Leder
vom Griff des Schwertes und breitete es auf seiner Decke aus.
Sie starrten darauf.
Es war eine Karte von Tallan Dar – von den Waldlanden bis hin zu den Nordfelszinnen. Am unteren Rand markierten Gelbtöne die
Ausläufer jener Wüsten, welche die Grenze zwischen Tallan Dar und dem Königreich von Shayil Yara bildeten. Sie erkannten die
Bengaw-Provinz im Südwesten, die langgezogene grüne Sichel der Or`hallas im Osten und die scharfe Trennlinie der Hecke, die
östliche Grenze der Waldlande. Der Dunkle Pfuhl war ein zerfranster grauer |119| Fleck, kaum mehr als ein verblasster
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