Das erste Schwert
Einschätzung, ob jenen Klingen auch die Qualität des Originals zu eigen sein wird. Die geheimen Zutaten jedenfalls,
welche die Schöpfer des ursprünglichen Schwertes ihrem Stahl beimengten, können nur im Buch des Wissens gefunden werden.«
Und damit schaute er die Mutter Bewahrerin an.
»Zweifelsohne«, fegte Haghos dies beiseite, »wird der Bewahrer-Orden diese Zutaten um der Sache willen mit Freuden preisgeben.
Aber vielleicht ist dies ja auch ganz unnötig. Vielleicht taucht das erste Schwert ja selbst wie durch Zaubermacht wieder
auf.«
Die Mutter Bewahrerin hielt die braunen Augen noch kurz geschlossen; sie schien sich zu sammeln. Als sie Seine Heiligkeit
gleich darauf mit einem Ruck geradeheraus ansah, glaubte Evan, die Welt wie unter dem mörderischen Aufeinanderprallen zweier
gigantischer Klingen erbeben zu spüren. Der scheinbar bodenlose, finstere Abgrund unter Haghos’ schwarzer Kapuze zerfloss.
Für einen nicht messbaren Augenblick erblickte Evan die Augen des Allheiligen Vaters – Schächte im Gefüge der Welt. Zitterte Haghos? Evan wusste es nicht zu sagen. Dann war es auch schon wieder vorbei. In einem
allgewaltigen Sog kehrte die Dunkelheit zurück und Evan wurde das Gefühl nicht mehr los, dass die religiösen Oberhäupter dieser
Welt eine ganz eigene Konversation miteinander führten.
Als die Mutter Bewahrerin gleich darauf sprach, lächelte sie charmant. »Ich hoffe nur, dass König Daegar noch kräftig genug
ist, das Schwert auch zu führen, sollte es tatsächlich wie durch Zaubermacht wieder auftauchen.«
»Oh, gewiss, meine Tochter.«
»Ebenso solltet Ihr bedenken, Allheiliger Vater«, fuhr sie unbeeindruckt fort, »dass es nach wie vor einen weit legitimeren |110| Anspruch gibt. Nach uraltem Recht steht das Haus Dorn im Rang hoch über dem Haus Ellitand.«
Damit wandten sich aller Augen dem Sturmgebieter Evan Dorn zu. Die pulsierende Macht im Schattenblick des Allheiligen Vaters
wurde nahezu körperlich greifbar.
»Bei dieser Gelegenheit, Sturmgebieter –«, sagte Haghos betont beiläufig und legte eine kurze Pause ein. »Wir wurden davon in Kenntnis gesetzt, dass Ihr vor dieser
noblen Zusammenkunft eine Bekanntgabe zu machen gedenkt.«
Evan atmete ein.
Der einzige Mann bei Hofe, der nach seinen eigenen Regeln spielt,
erinnerte er sich. Nur: Spielte er denn tatsächlich noch nach eigenen Regeln oder war er schon längst zur Schachfigur verkommen
– in einem Spiel, das hinter den Kulisssen allein zwischen Bewahrern und Kirche gespielt wurde?
Deutlich spürte er, wie sich der Blick der Mutter Bewahrerin mit ungeheurer Intensität dem pulsierenden Druck Seiner Heiligkeit
zugesellte.
»Ja, Allheiliger Vater«, räumte er ein. »Tatsächlich reiste ich in der Absicht hierher, das Recht des Hauses Dorn auf die
königliche Erbfolge niederzulegen.«
Er wartete, bis die Hochdamen nach Luft geschnappt hatten und wieder Stille einkehrte. Die Mutter Bewahrerin saß ihm gegenüber
so starr an der Tafel, als sei auch sie nichts weiter als eine Statue.
»Indes jedoch«, fuhr Evan fort, »brachten mich gewisse Vorkommnisse hier bei Hofe zu der Überzeugung, dass es ein Unding wäre,
würde ich in solch unsicheren Zeiten meinem Königreich entsagen. So verkündige ich hiermit stattdessen die Absicht des Hauses
Dorn, weiterhin unter den Anwärtern auf die Herrscherwürde zu verbleiben.«
Die Stille im Gefolge dieser Worte schien lauter zu sein als das Stimmengelärm vor Beginn des Konzils. Seine Heiligkeit sprang
auf. Ein unsichtbares Brodeln ergoss sich unter der |111| Kapuze hervor und traf Evan mitten im Gesicht. Wären keine Zeugen zugegen gewesen – der Hieb hätte ihm wohl den Schädelknochen
zerschmettert. So blieb er am Leben. Noch. Eine entsetzliche Kälte breitete sich in ihm aus. Aller Kraft fühlte er sich beraubt.
Es muss eine Art Trick sein,
hörte er in weiter Ferne seine Gedanken hämmern.
Eine Art den Verstand kontrollierende Magie. Aber so etwas gibt es nicht. Oder?
»Ihr habt keinen Erben, Hochgebieter Evan«, erinnerte Haghos ihn sanft. Seine vordergründig so beherrschte Stimme klang wie
Donnerhall in der Stille des Saales. »Ihr seid der Letzte Eures Geschlechts.«
»Wohl wahr«, gestand Evan ein und kämpfte darum, seine Stimme fest klingen zu lassen. »Doch habt Ihr uns gelehrt, Allheiliger
Vater, niemals die Hoffnung aufzugeben. Wie die anderen königlichen Häuser unterwerfe auch ich meinen Anspruch dem
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