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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
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Tür und läutete beim Ehepaar Dobrovolny. Für all die Tricks, die bei uns nicht mehr wirkten, fand ich hier zwei geduldige Abnehmer, die mit Worten der Bewunderung nicht sparten. Zuverlässig riefen die Lügengeschichten, mit denen ich meine eigenen Wahrheiten erprobte, bei ihnen jenes Erstaunen hervor, das ich für den wahren Lohn jedes Erzählens hielt. Herr Dobrovolny war ein eleganter älterer Herr, der das Haus nur im Anzug und mit Krawatte verließ, aber dennoch den Eindruck eines Mannes machte, der es gerne gemütlich hatte. Er ging um acht Uhr aus dem Haus, kehrte um zwölf zum Mittagessen zurück, begab sich kurz vor vierzehn Uhr wieder in sein Büro, von dem er nicht viel später als um fünf Uhr abends heimkam. Schaute ich mittags aus dem Fenster, sah ich sie aus allen Richtungen herbeiströmen, die Angestellten, Beamten, Handwerker, die in Büros und Sparkassen, in Geschäften und Läden arbeiteten und das Mittagessen auch unter der Woche stets zuhause einnahmen.
    Herr Dobrovolny stammte aus Wien, was er gerne betonte, sein Idol war der Kabarettist Karl Farkas, den er für den witzigsten Österreicher hielt, und ähnlich wie dieser begann er seine Plaudereien meistens mit dem Satz: »No, pass’ auf, ich werd dir was erzählen.« Er hatte was gegen Nazis, für die er abwechselnd auch das Wort
Piefke
gebrauchte, es gab keinen Nazi, der kein Piefke, und fast keinen Piefke, der kein Nazi gewesen wäre, und er hatte auch was gegen die Kommunisten, die die Länder hinter dem Eisernen Vorhang unterdrückten. Nur wenn es um die Piefke, also um die Nazis, oder um die Kommunisten, also um den Eisernen Vorhang, ging, regte sich Herr Dobrovolny auf, dann bekam er, der sonst versonnen zu lächeln pflegte, einen roten Kopf, und seine weiche Stimme, in der er in wienerisch gefärbter Sprechweise mit Vorliebe von amüsanten Dingen sprach, wurde scharf.
    Das Wohnzimmer der Dobrovolny hatte einen anderen Geruch als das unsere, und das kam vom Fernseher. Der voluminöse Kasten mit dem ovalen Bildschirm stand auf der Kredenz, und wurde er eingeschaltet, gab er ein leises Knirschen von sich, worauf sich die dunkle Scheibe nach einigen Sekunden erhellte und ein neuer Stoß des Fernsehgeruchs durch den Raum drang. Hier durfte ich zum ersten Mal fernsehen, die Übertragung eines Länderspiels der österreichischen Fußballnationalmannschaft, bei der das halbe Haus im Wohnzimmer der Dobrovolny versammelt war. Vater und Herr Dobrovolny waren sich einig, dass entsetzlich gehässig und faul gespielt wurde, wobei der Gastgeber das Wort auf Englisch als »fuul« aussprach, was danach eine Zeitlang Mode wurde in der Gegend. »Fuuul« riefen wir auf der Wiese, wenn sich ein Mitspieler des Balls mit unfairen Mitteln bemächtigt hatte, und tat er sich besonders darin hervor, statt auf den Ball gegen die Knöchel der Gegenspieler zu treten, galt er künftig als »fuule Sau«.
    Die Dobrovolny waren die einzigen Leute im Haus, mit denen die Eltern per du waren, und Mutter und Frau Dobrovolny unternahmen öfter etwas gemeinsam. Sie war fünfzehn Jahre jünger als ihr Mann, eine sportliche, blonde Frau aus einer Gemeinde im Salzburger Gebirge, auf die der redselige Charme ihres Mannes seine Wirkung über die Jahre nicht verlor. Ihr erwachsener Sohn lebte seit einiger Zeit in einer anderen Stadt, und wenn den Dobrovolny in ihrem Talent zur Zufriedenheit, das ihnen Vater rätselhafter Weise nicht übelnahm, etwas abging, dann waren es weitere Kinder, auf die sie lange gehofft hatten, die aber nie gekommen waren. Dafür kam ich und schlug mein Rad, und was immer mir einfiel, um mich ihnen zu präsentieren, ihre Anerkennung war mir sicher. Manchmal nahm Frau Dobrovolny mich in den Arm, und dann schaute sie mich mit blaugrauen Augen so innig an, dass ich vor Behagen schnurrte. Sollten die Eltern sterben, dachte ich mir, würde ich mich sicher für die Dobrovolnys entscheiden.

ICH WAR EIN BRAVES KIND , das unverdrossen verlangte, schlimm sein zu dürfen. Es war mir verboten, mich auf den Baum im Garten heben zu lassen, er war mir erst für den Tag versprochen, an dem ich imstande sein würde, aus eigener Kraft den Stamm zwei Meter hinauf bis zu der Stelle zu klettern, an der sich seine Äste gabelten und herrliche Plätze zum Sitzen boten. Das Verbotene wollte ich mir weder insgeheim aneignen, noch mir die Freiheit wie selbstverständlich nehmen, was ich suchte, war vielmehr der Beifall, den mir die öffentliche Übertretung eintragen würde.

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