Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
Vom Netzwerk:
sondern ein nutzloser Lappen.
    Jetzt aber war es noch nicht so weit, ich trug den Ball zum Schuhmacher Loibner, einem hageren Mann mit dunkelbraun gegerbtem Gesicht, der seine Werkstatt in einem Kellerraum hatte, in dem es roch, als würden hier schon jahrelang nichts als Fußbälle gelagert werden. Er hieß mich auf einem Schemel Platz nehmen, klemmte sich den Ball zwischen die Schenkel, fuhr mit einer Nadel in das Ventil, sodass ein wenig Luft aus der Seele entwich und er sich den Ball so herrichten konnte, dass der schadhafte Zwirn leicht zu entfernen war. Ich saß betäubt von dem Geruch in der Werkstatt, in der der Schuhmacher unantastbar über die Dinge gebot, über die Zangen und Messer, die Raspeln und Ahlen, die geraden und die geschwungenen Werkzeuge und erst über die zahllosen Schuhe und Stiefel, schwarze, dunkelbraune, hellbraune, sogar etwas so Seltsames wie einen Männerschuh aus schwarz-weißem Lack sah ich dort. Auf dem Tisch, auf dem lauter Lederschnipsel lagen, suchte er nach Zwirn, mit dem er die beiden Lederstücke wieder miteinander vernähte, wobei seine Bewegungen zugleich energisch und grazil waren. An diesem Nachmittag erlebte ich die Verwandlung einer unscheinbaren Figur, die nur schemenhaft durch meine Welt gehuscht war, in einen Mann, der eins war mit seinem Tun, und etwas von dem Glanz, in dem ich ihn in seiner Werkstatt hatte arbeiten sehen, war künftig immer um ihn, wenn ich ihm in der Siedlung begegnete.
    Spielten wir im Regen, sog der Lederball die Nässe auf, dann wurde er schwerer und schwerer, er flog nicht mehr in hohem Bogen, sondern trudelte dahin und sprang auch nicht richtig auf, sondern glitschte flach weg. In den Sommerferien haben wir manchmal den ganzen Tag Fußball gespielt, gleich nach dem Frühstück fingen wir an und unterbrachen erst, wenn die Mütter uns zum Mittagessen riefen, um gleich danach das Spiel in anderer Aufstellung der Mannschaften fortzusetzen. Wir liefen und liefen, bis in den Fenstern wieder die Mütter erschienen und aus den entfernten und näheren Häusern ihr vielstimmiger Gebetsruf erschallte, der uns im hereinbrechenden Abend nachhause befahl.

SONNTAGS UM DREI gellte zuverlässig ein dünner Schrei durch die Wohnung über uns. Und wir waren uns wieder einig, dass es eine Zumutung war, unter einer solch schrecklichen Familie zu wohnen. Sie hießen Dorfer, hatten drei Töchter und ein Klavier, an dem Hedda, Ingeborg, Kordula dem Alter nach ihre tägliche Stunde absitzen mussten. Ich sah die drei Schwestern immer nur zu dritt, schnell huschten sie aus dem Haus, in die Schule oder die Stadt, und wenn sie mit kleinen, flinken Schritten zurückkehrten, schienen sie sich noch fester aneinanderzudrücken. Hedda stolperte immer an derselben Stelle der Etüde und klopfte, wenn das erste Motiv abgewandelt wurde, zaghaft, aber beständig auf die falsche Taste. Frau Dorfer war eine magere, nervöse Frau, deren Stimme kippte, sobald sie sich aufregte, sodass ihr Geschrei an ein schmerzhaftes Trillern erinnerte. Unser Sonntagskonzert währte keine Minute, da schrie und schmerzte es schon, bis einige Takte dumpfer Stille folgten. Danach fing Hedda wieder von vorne an, denn wer einen Fehler machte, der musste noch einmal durch die Partitur exerzieren.
    Das Konzert war die Ursache eines fortgesetzten Zerwürfnisses zwischen dem fünften und dem vierten Stock des Hauses und der sonntägliche Urgrund unseres Verdrusses. Ich lümmelte auf dem Sofa im Wohnzimmer und hörte die Eltern und Schwestern den halben Nachmittag streiten, was zu tun sei, um den Sonntagsfrieden, den uns die Dorfer geraubt hatten, zurückzuerobern. Mutter und die Schwestern fanden, es sei Vaters Aufgabe, hinaufzugehen und Herrn Dorfer, einem feisten Mann, der gerne den Tolpatsch gab, die Meinung ordentlich hineinzusagen. Vater hingegen schlug vor, die ältere Schwester solle hinaufgehen und bestellen, dass er erkrankt wäre und daher um gefällige Beachtung der Sonntagsruhe ersuche.
    Einmal aber, ergrimmt von unseren Lamentationen, stürmte er tatsächlich hinauf, wobei er die Wohnungstür so wuchtig zuwarf, dass sich viele Türen öffneten und die Leute in das Treppenhaus traten, um nicht womöglich einen Skandal zu versäumen. Ich schlich ihm in den Halbstock nach, sodass ich beobachten konnte, was oben geschah, und zugleich im Auge hatte, welche Wirkung es unten hervorrief. Wütend hielt er den Finger auf die Klingel gedrückt, bis Herr Dorfer die Tür aufmachte und nach seiner Art so tat,

Weitere Kostenlose Bücher