Das Erste, was ich sah
des österreichischen Generalstabs im Ersten Weltkrieg. Hier begann das Feindesland, denn in der Conrad-von-Hötzendorfstraße und in der benachbarten Böhm-Ermolli-Straße, benannt nach Feldmarschall Eduard Böhm-Ermolli, dem Eroberer von Odessa 1918, wohnten Stänkerer, die sich nicht mehr unserem Viertel zugehörig fühlten und uns, wenn wir in ihr Revier vorgedrungen waren, als »Muttersöhnchen vom Aiglhof« beschimpften.
Durch das ganze Viertel schnitt eine zentrale Straße, an der sich auf halber Länge unser Haus erhob, das mit seinen sechs Stockwerken als das
Hochhaus
vom Aiglhof galt. Um diesen Boulevard und die von ihm wegführenden Straßen, zu denen noch die Auffenbergstraße gehörte, General Moritz von Auffenberg, der Sieger von Komerow 1914, waren vier Höfe gruppiert. Einer von ihnen war von Häusern umschlossen, die festungsgleich aneinandergebaut waren, und konnte nur durch einen mächtigen Torbogen betreten werden, in die drei anderen führten zwischen den Häusern schmale Zufahrten und Kieswege hinein. In diesen Höfen hatten verschiedene Banden das Sagen, zwischen denen aber nicht nur Streit und Feindschaft, sondern auch ein unaufhörlicher Austausch herrschte, sodass es nichts Besonderes war, wenn ich mich die eine Woche mehr in diesem, die andere in jenem Hof aufhielt. Die ganze Siedlung mit ihren vier Höfen war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs errichtet worden, um für die aus Italien ausgesiedelten
Südtiroler
Wohnraum zu schaffen, und unsere, die wichtigste Straße verdankte ihren Namen dem vielbesungenen Sieger auf den italienischen Schlachtfeldern von Custoza, Mortara und Novara, General Joseph Wenzel von Radetzky. Lauter Sieger, sagte Vater, und trotzdem hat Österreich den Krieg verloren.
DER MANN MIT DEM FUSS AUS HOLZ hatte ein schwarzes, schweres Rad, das man nur mit einem Bein treten konnte, auf der linken Seite blieb das Pedal in unterer Stellung fixiert. Darauf ruhte steif und unbeweglich der Fuß, von dem manchmal, wenn das Hosenbein ein wenig hochrutschte, ein helles Holzstück sichtbar wurde. Viele Leute der Gegend schleppten einen versehrten Körper die Straße entlang, sie humpelten mühsam voran, oder ihr Gang hatte etwas von einem Hüpfen an sich, sodass ich, wenn ich ihnen nachblickte, den Umriss der Figur noch lange an deren regelmäßigem Auf und Ab ausmachen konnte. Einem fehlte der Fuß oder das ganze Bein, er ging mit Krücken, und seine Hose war auf der Seite, wo etwas fehlte, mit einer Schlappe hochgebunden, ein anderer bewegte sich auf zwei Beinen, von denen eines steif war und am Knie nicht abgebogen werden konnte, sodass er seinen Körper in einem ausgleichenden Schlenkern halten musste. Hier fehlte ein Arm, da hatte die Hand zu wenige Finger und dort war etwas mit dem Gesicht nicht in Ordnung, die rechte Wange verbrannt, das halbe Ohr weggeschmolzen, oder auf der Stirn war eine große Delle, eingebuchtet von einem Kopfschuss.
Der Herr Lindinger in unserem Haus hatte einen Pferdefuß, der in einem hohen, steinhart wirkenden Klumpschuh steckte, und oft dachte ich, es wäre der Schuh, der ihn schmerzte. Er gehörte zu den freundlichen Erwachsenen des Hauses und beschwerte sich nie über den Lärm, den wir Kinder verursachten. Herr Dobrovolny hatte Vater aber erzählt, dass er Herrn Lindinger einmal im »Laterndl«, dem von den Frauen gefürchteten Lokal, in dem sich alle Männer, die keine Waschlappen waren, nach dem Monatsersten betrinken mussten, getroffen und dieser ihm lallend gestanden habe, dass er niemals wieder nach Italien reisen könne; wenn die in Italien ihn erwischten, müsste sich das Hotel, in dem er arbeitete, nämlich einen neuen Portier suchen.
Der Mann mit dem Holzfuß hieß Vergeiner, stammte aus Südtirol und wohnte am unteren Ende der Straße. Man sah ihn oft auf seinem Rad, fest trat er ins Pedal, weil er immer in Eile war, dabei arbeitete er gar nicht, obwohl er in einem Büro auch ohne zweites Bein hätte arbeiten können. Aber Herr Vergeiner zog es vor, seine Frau arbeiten zu schicken, obwohl sie drei Kinder hatten und von zehn Frauen der Gegend höchstens eine berufstätig war, als Krankenschwester oder Sekretärin, und am späten Nachmittag trippelte sie von der Arbeit heimwärts, weil sie noch kochen und den Haushalt besorgen musste. Er war als Sammler von Mineralien berühmt und Mitglied im Verein heimattreuer Mineralogen, man erzählte sich von seiner Sammlung und seinem Kenntnisreichtum die tollsten Dinge, sogar dass er, dessen
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