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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
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der beim Starten schwarze Schwaden ausstoßende E-Wagen, der bei der Fahrt über den steilen Müllner Hügel ächzend fast zu stehen kam.
    Es war verboten, während der Fahrt mit dem Fahrer zu sprechen, und wie er das Lenkrad drehte, indem er den Oberkörper wuchtig mitschwingen ließ und dann die Hand wieder fest um den gewaltigen, heftig vibrierenden Ganghebel schloss, schien er so schwere körperliche Arbeit zu verrichten, dass an ein Gespräch ohnehin nicht zu denken war. Der Schaffner hingegen saß hinten in einer Art Häuschen auf seinem Thron und verkaufte die Fahrkarten, indem er dünne Blätter von einem Block zupfte, in die er dann mit einer Zange zwickte. Damit er beim Blättern nicht in die Hände spucken musste, trug er über dem Daumen der einen Hand eine kleine Kappe mit roten Gumminoppen. Hatte ein Fahrgast bereits eine Karte, musste er sie beim Betreten des Busses vorweisen und »Umgestiegen« rufen, dann überprüfte der Schaffner die Karte, auf der das ganze Streckennetz der Stadt eingezeichnet war, und zwickte sie neuerlich mit der silbernen Zange.
    Der A-Wagen hatte einen Anhänger, und jede zweite Station sprang der Schaffner hinaus und verkaufte im hinteren Wagen die Karten, dann kam er wieder in den vorderen, setzte sich auf seinen Thron und rief in den Wagen: »Noch wer ohne Fahrschein?« Unter den Obusschaffnern gab es solche und solche, viele von ihnen hatten als städtische Angestellte bei uns in der Siedlung ihre Dienstwohnungen zugeteilt bekommen. Begann ein Kind zu weinen, schnitt der dickliche, rotgesichtige Schaffner, der in der Tegetthoffstraße wohnte, Grimassen, um es zum Lachen zu bringen; der Fahrer Lercher aber, der erst Stunden nach Dienstschluss durch die Radetzkystraße heimwärts zu torkeln pflegte, herrschte die Kinder, wenn sie laut oder unruhig waren, selbst dann an, wenn ihre Eltern neben ihnen standen, pflichtvergessene Leute, die ihre Brut nicht ordnungsgemäß zu halten wussten.

EIN PAAR STUNDEN ODER WOCHEN war ich nur am Rand gestanden, ohne recht darauf zu achten, was die schreienden und schwitzenden Männer so begeisterte, aber auf einmal begriff ich, dass es etwas gab, das Ball hieß und in seiner runden Vollkommenheit mit magischen Kräften beherrscht werden wollte. Im selben Augenblick war ich verzaubert, und so wenig mir, der ich oft die Dinge, mit denen ich basteln sollte, nach kurzem Bemühen empört von mir schleuderte, das Geschick von Fingern und Händen bedeutete, so wichtig wurde mir, dem Ball mit dem Fuß meinen Willen aufzuzwingen: das Geschick, ihn dorthin zu befördern, wo ich ihn haben wollte, oder ihn, bald mit dem rechten, dann mit dem linken Fuß ein wenig in die Höhe zu lupfen, ohne dass er auf den Boden gefallen wäre.
    Früh ließen mich die Älteren mitspielen, aber mit einem Ball war ich auch dann nicht allein, wenn ich keine Gefährten fand. Gerne spielte ich in den immer neu zusammengewürfelten Mannschaften, aber es genügte mir auch, für mich mit dem Ball zu jonglieren und all die kleinen Kunststücke auszuprobieren, mit denen man sich einen Ball gefügig machen kann. Kaum dass ich ihn entdeckte, hatte ich eine innige Beziehung zu ihm, und als mir kurz vor dem fünften Geburtstag der letzte Osterhase meiner Kindheit meinen ersten Lederball brachte, nahm ich ihn abends mit ins Bett. Es war ein rotbrauner Ball, zusammengesetzt aus lauter länglichen Lederstreifen, die miteinander mit dickem weißen Zwirn vernäht waren, er hatte einen betörenden Duft, ich drückte ihn fest an mich und roch mich an ihm in den Schlaf. Anderntags ging ich, den Ball mit der Hand auf den Boden tippelnd, zur nahe gelegenen Fußballwiese und kostete das Glück aus, ihn mit einem kleinen Match einzuweihen, diesen roten Lederball, der prallvoll aufgepumpt war, sodass er stark vom Boden aufsprang und schnell wurde, wenn man ihn richtig zu schießen verstand. Abends trug ich sorgfältig Schuhcreme auf, die ich nachpolierte, damit er seinen Glanz bewahre, mit der Zeit wurde er rauh und rissig und dunkelbraun mit ein paar Flecken von grasigem Grün darin. An den Nähten hatte er seine Schwachstellen. Nach vier Monaten platzte eine Naht auf, ein Lederstück bog sich nach oben, sodass ich sie sehen konnte, die Seele des Balls, den roten Gummisack, der unter der ledernen Haut verborgen war; erst wenn er kaputt und die Luft aus ihm entwichen war, hatte die Seele des Balls sich ausgehaucht, und was dann dalag, unbeachtet, ins Eck geworfen, war kein Lebewesen mehr,

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