Das Erwachen
zwischen uns drängt, egal, was – Albträume, mein alberner Stolz, was auch immer. Und solange du mich liebst, ist es mir völlig egal, was die anderen denken.«
Sie lächelte verhalten, beugte sich vor, küsste ihn. Ein perfekter Kuss, züchtig, genau das Richtige am Frühstückstisch. Doch obschon sich ihre Lippen nur ganz sachte berührten, war es wahnsinnig sinnlich. Finn durchfuhr ein seltsames Beben, er stand verlegen auf. »Wir sollten jetzt aber los. Oh – tut mir leid, mein Spiegelei war nicht so toll. Isst du noch? Ich wollte dich nicht hetzen.«
»Nein, nein, ich bin schon fertig. Brechen wir auf.«
Es war, als hätten sie es auf einmal schrecklich eilig, aus diesem jahrhundertealten Haus ins Sonnenlicht zu treten.
Der Speisesaal grenzte direkt an den Eingangsbereich, ein altes Foyer mit einer Wendeltreppe ins Obergeschoss. Draußen blieb Megan in der frischen Oktobersonne stehen. »Ich wollte dir nur noch sagen: Ich liebe dich auch, und zwar so sehr, dass es mir richtig Angst macht«, erklärte sie leise.
»Bitte hab keine Angst, mich zu lieben. Du bedeutest mir alles«, erwiderte er, auch wenn er es gar nicht so leidenschaftlich hatte formulieren wollen. Er fühlte sich seltsam verlegen, als habe er zu viel gesagt. »Na, jetzt aber los. Meine Handfläche juckt schon, sie will unbedingt gelesen werden. Und ich bin auch passend gekleidet – ganz in Schwarz. Beeil dich, solange ich noch in der Stimmung bin, mich bei deinen Verwandten einzuschleimen.«
»Na gut, ich beeile mich ja schon. Aber unterwegs legen wir noch einen Stopp ein.«
»Einen Stopp? Aber dann geht mir vielleicht die Luft zum Einschleimen aus.«
»Nein, bestimmt nicht. Morwenna und Joseph werden dir sicher gefallen, wenn du erst mal Gelegenheit hast, dich etwas eingehender als bei unserer Hochzeit mit ihnen zu unterhalten.«
Finn ging eine Zeit lang stumm neben ihr her. Er glaubte nicht, dass sie recht hatte. Keine Ahnung, welche Farbe Morwennas Haar wirklich hatte, aber es war bestimmt nicht so rabenschwarz, wie sie es färbte. Und sie trug ständig nur schwarze Kleider. Von oben bis unten schwarz. Bei Joseph war es nicht anders. Sein Haar, meist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, war genauso lang wie das seiner Frau. Außerdem trug er stets eine schwarze Hose und ein schwarzes Hemd und vor der Brust ein silbernes Pentagramm. Finn fragte sich, was die beiden wohl am Strand tragen würden – falls sie je an den Strand gingen.
»Wo wolltest du denn noch hin?«, fragte er.
»Ins Hexenmuseum. Der Junge, Joshua, hatte recht. Es dauert nicht länger als zwanzig Minuten, aber dort bekommt man wahrscheinlich den besten und genauesten Überblick über das, was in dem Wahn von 1692 wirklich vorgefallen ist. Es wird dir gefallen, glaub mir.«
»Nun denn, ich folge dir«, meinte er.
»Natürlich gibt es noch andere Sehenswürdigkeiten. Das Peabody Essex Museum zum Beispiel, es ist wirklich unglaublich. Dort werden Kunst und Kurioses aus vielen Jahrhunderten gezeigt. Inzwischen sind mehrere historische Gebäude diesem Museum angeschlossen. Irgendwann müssen wir auch mal das Haus mit den sieben Giebeln besichtigen. Es liegt in einer wundervollen Gegend, umgeben von vielen historischen Sehenswürdigkeiten. Morwennas Laden ist ungefähr einen Block davon entfernt. Gleich um die Ecke liegt das Hexenmuseum, und von dort aus ist es noch einen Block weiter zum Peabody Essex Museum. Unterwegs kommt man an allen möglichen wundervollen kleinen Läden vorbei. Zu Mittag machen wir Rast in einem kleinen Lokal direkt am Wasser. Na ja, zugegeben – in meiner Jugend hat mich das alles noch viel mehr begeistert. Alles kam mir noch ein bisschen unheimlicher und geschichtsträchtiger vor. Inzwischen ist es ziemlich kommerzialisiert.«
»Aber daneben gibt es doch bestimmt auch ein paar Leute, die einfach nur hier geboren wurden und mit der guten alten Zurückhaltung und dem Stehvermögen der Neuengländer gesegnet sind; Menschen, deren Welt sich nicht hauptsächlich um Geschichte und Hexen dreht – ob nun echt oder eingebildet.«
Sie blickte ihn scharf an.
»Hey! Damit will ich doch nur sagen, dass hier bestimmt auch eine ganze Reihe ganz normaler Leute leben.«
»Ja, natürlich. Salem ist ein reizvoller Ort.«
»Ein hübscher Ort«, pflichtete er ihr bei.
Und das stimmte. Im Oktober war das Laub zwar teilweise schon verschwunden, aber es lag noch kein Schnee. Es war kühl, aber nicht richtig kalt. Noch zeigten sich überall die Farben des
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