Das Erwachen
als andere. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Einer sah aus, als wäre er vor langer Zeit ein Engel oder so etwas Ähnliches gewesen.
Ein Schauder überlief sie. Sie überlegte, ob sie vielleicht auf einem alten Friedhof gelandet war.
Als es am Fenster klopfte, wurde ihr vor Schreck ganz schwummrig.
Sie drehte sich zur Beifahrerseite. Andy Markham stand neben dem Wagen.
Wieder zögerte sie einen Moment. Vielleicht war der Alte wirklich verrückt und hatte sie hierhergelockt, um sie zu ermorden?
Der Gedanke schien nicht völlig abwegig, doch plötzlich bezweifelte sie, dass dieser dürre alte Mann es mit ihr würde aufnehmen können.
Aber vielleicht hatte er eine Pistole?
Nein. Seine Klamotten schlotterten ihm so um den Körper, dass er darunter keine Waffe versteckt haben konnte.
Jetzt war sie schon so weit gefahren, und ganz offenkundig waren nur sie und Andy auf dieser gottverlassenen, unheimlichen Lichtung.
Sie stieg aus.
»Hallo, Andy.«
Er trat zu ihr und musterte sie besorgt. »Danke, dass Sie gekommen sind. Ich schwöre Ihnen, ich versuche nur, Ihnen zu helfen.«
»Ja, das ist schön«, erwiderte sie freundlich. »Aber …«
»Aber Sie glauben nicht an Lügenmärchen oder Gespenster, an die Geister der Toten oder Ähnliches.«
»Richtig«, antwortete sie leise.
»Aber Sie wollen mir trotzdem zuhören. Wissen Sie, wo wir hier sind?«
»Es sieht aus wie eine Art Friedhof. Dort drüben liegen wohl die Reste eines Engels.«
»Ja, es ist eine Art Friedhof.«
»Dann befinden wir uns also auf geweihtem Boden. Hier kann uns nichts passieren«, meinte sie munter.
Er schüttelte den Kopf so ernst, dass es ihr eiskalt über den Rücken lief.
»Andy …«
»Es ist ungeweihter Boden. Hier wurden vor vielen hundert Jahren diejenigen bestattet, für die auf einem ordentlichen Kirchhof kein Platz war.«
»Oh«, murmelte sie. »Wie traurig. Sie meinen Leute wie Rebecca Nurse oder andere, die bei den Hexenprozessen für schuldig befunden worden waren?«
Andy schnaubte. »Die Geschichte und die Forschung zeigen uns, dass Rebecca Nurse eine anständige alte Frau war, nur leider nicht sonderlich beliebt. Ihre Familie liebte sie, und sie haben sich auch um ihre Leiche gekümmert. Ich rede hier über das wahre Böse.«
»Ach so«, meinte Megan möglichst gleichmütig, auch wenn sie sich wünschte, lieber nicht hergekommen zu sein. Worauf zum Teufel wollte dieser unheimliche Alte hinaus?
Er betrachtete sie weiterhin sehr ernst. »Sie müssen daran glauben, dass es das Böse gibt auf dieser Welt.«
»Andy, ich habe eine Cousine, die dem Wicca-Glauben anhängt, und ich weiß …«
»Nein, nicht die Wiccas«, unterbrach er sie abfällig schnaubend. Dann seufzte er tief. »Eigentlich ist es doch glasklar: Wenn es das Gute auf dieser Welt gibt, dann gibt es auch das Böse. Es gibt einen liebevollen Gott, aber im Alten Testament auch einen zornigen. Sagen wir mal, Sie glauben an die Grundlagen des Christentums: Gott ist gut und sitzt dort droben im Himmel. Aber wer an Gott glaubt, glaubt auch an seinen Gegenspieler – Luzifer, den gefallenen Engel. Und so, wie der Gott unserer Ahnen gut ist, ist sein Gegenspieler böse. Einst glaubte man, dass Satan nach Neuengland gekommen sei. Satan ist ein recht beschäftigter Bursche. Aber so, wie Gott inmitten der Engel und anderer guter Geister thront, so hat auch Satan seine Helfer und Dämonen – Geschöpfe, die durch und durch böse sind.«
Megan starrte ihn wortlos an.
»Kommen Sie mit.«
Sie wusste nicht, warum, doch als er sich umdrehte und zu den Steinen im Unterholz ging, folgte sie ihm.
Sie kamen zu dem Stein, den sie für einen Marmorengel gehalten hatte. Aus der Nähe erkannte sie selbst trotz des verwitterten Zustands, dass es sich nicht um einen Engel handelte. Es war ein Dämon, mit Hörnern, einem Schwanz, einem spitzen, vorstehenden Kinn, das ihm einen grausigen Ausdruck reiner Fleischeslust und Bösartigkeit verlieh.
»Andy, dieses Ding ist grässlich!«
»Und allzu echt«, erwiderte er leise. Er kratzte sich das stoppelige Kinn, sah Megan an und fügte dann dumpf hinzu: »Er versucht, zurückzukommen.«
Kaltes Entsetzen befiel sie, doch sie erwiderte mit fester Stimme: »Es tut mir leid, aber Marmorstatuen sind von Menschenhand gefertigt.«
»Sehr richtig, junge Frau, und es sind auch Menschen notwendig, lebendige Menschen, um die Rückkehr der Toten zu ermöglichen.«
»Andy, Sie machen mir Angst hier draußen«, sagte
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