Das Erwachen
Grimasse. Das würde sie nicht weiterbringen. Sie musste sich wohl oder übel anziehen und auf den Weg in den Speisesaal machen. Das Frühstück war zwar schon vorbei, aber Kaffee und Tee gab es den ganzen Tag. Etwas zu essen brauchte sie nicht, sie wollten ja Tante Martha zum Mittagessen besuchen.
Bei diesem Gedanken lächelte sie. Martha war ein fröhlicher, dabei auch sehr pragmatischer Mensch, durch und durch vernünftig. Und außerdem war sie eine hervorragende Köchin. Die Vorstellung, Martha zu besuchen, vertrieb ihre unheimlichen Gedanken, die sie allmählich immer stärker quälten.
Sie stellte die Kaffeemaschine an, dann ging sie unter die Dusche. Das Wasser prasselte auf ihre Hand. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als sie merkte, dass an ihren Armen und Hüften Blutergüsse waren.
Was zum Teufel war in ihn gefahren?
Finns sexuelle Anziehungskraft beruhte zum Teil auf seiner Fähigkeit, extrem sanft und zärtlich zu sein. Die kleinste Berührung schien jede erogene Zone in ihrem Körper zu erregen. Doch von einer Berührung, die sanfter war als ein Flüstern, konnte er sich in einen fiebrigen, elektrisierenden Taumel der Leidenschaft hineinsteigern, und das mit solcher Finesse, dass sie nie sagen konnte, wie er es immer wieder schaffte, sie völlig um den Verstand zu bringen. Sein Liebesspiel konnte sanft sein, aber auch ungestüm und heftig.
Aber nie so, dass es wehtat. Bis gestern Nacht.
Darüber würden sie noch einmal reden müssen. Er war so … so anders gewesen.
Ja.
Aber auch aufregend.
Wie ein Fremder.
Mit einem Fremden zu schlafen wäre nicht aufregend, dachte sie zerknirscht. Finn war unglaublich, selbst als sie gedacht hatte, dass sie nicht mehr mit ihm zusammenleben konnte, hatte sie sich nie zu einem anderen Mann hingezogen gefühlt. Sie war überzeugt gewesen, dass sie nie mehr einen attraktiven Mann finden würde, nicht nach Finn. Und deshalb …
Sie schüttelte den Kopf, dann runzelte sie noch einmal die Stirn, als ihr Blick auf die Blutergüsse fiel. Sie waren jung, sie liebten sich, sie hatten einen gesunden sexuellen Appetit. Aber selbst in einer Stadt wie New Orleans hatten sie niemals seltsame Gelüste verspürt. Sadistische oder masochistische Anwandlungen.
Allerdings erinnerte sie sich schwach an Momente des Schmerzes. Doch da war sie immer so mit ihrem überwältigenden Anstieg zum Höhepunkt beschäftigt gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie Finn sie gehalten, ja niedergedrückt hatte.
Als sie aus der Dusche trat, verdrängte sie ihre Sorgen. Sie wollte auch nicht daran denken, dass es ihnen womöglich nicht guttat, hier zu sein, nahe ihrem Zuhause, umringt von Verwandten und alten Freunden – dass das womöglich dazu führte, dass sie beide anders waren.
Der Kaffee war fertig. Sie schenkte sich eine Tasse ein, dann zog sie rasch Jeans, ein T-Shirt und einen Pullover an. Während sie ihre Schuhe zuschnürte, sah sie, dass Finn noch immer tief und fest schlief.
Sie machte sich auf den Weg zum Speisesaal, um sich richtigen Kaffee zu besorgen.
Er war leer, ja im ganzen Haus herrschte eine richtige Grabesruhe.
Sie stand reglos da und blickte aus dem Fenster, als eine Stimme hinter ihr sie erschreckt zusammenfahren ließ.
»Ms Douglas!«
Kaffee schwappte aus dem Becher, als sie herumwirbelte. Susanna McCarthy stand hinter ihr. Sie hatte gar nicht gehört, wie die Haushälterin hereingekommen war. Es war ja richtig unheimlich, wie leise sich diese Frau bewegte.
»Ach, guten Morgen, Ms McCarthy«, erwiderte sie betont höflich.
»Hier ist ein Anruf für Sie.«
Sie runzelte die Stirn. War ihren Eltern etwas passiert? Nein, das war unwahrscheinlich, die Notfallnummer, die sie ihren Eltern gegeben hatte, war die ihres Handys.
Ihre Sorge war also nur von kurzer Dauer, zumindest die um ihre Eltern.
»Es ist der alte Andy Markham«, erklärte Susanna und schnaubte abfällig. »Wollen Sie mit ihm sprechen?«
Die Frage klang so, als ob sie sie besser verneinen sollte. Vielleicht gerade deshalb beschloss sie, den Anruf entgegenzunehmen, auch wenn sie nicht sicher war, ob sie wirklich mit dem alten Andy reden wollte.
»Ja, natürlich, Ms McCarthy, vielen Dank«, säuselte sie.
»Sie können den Apparat im Salon benutzen, dort drüben«, meinte Susanna und deutete auf den sehr förmlich eingerichteten Aufenthaltsraum gleich neben dem Speisesaal.
»Danke.«
Megan ging hinein und setzte sich auf einen eleganten viktorianischen Stuhl neben dem Telefon.
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