Das Erwachen
antwortete sie: »Dich zusammenschlagen zu lassen kostet viertausend. Für fünftausend schneiden sie dir ein Ohr ab.«
Henry ballte die Hände zu Fäusten und löste diese wieder auf.
Im gleichen monotonen Tonfall, als lese sie eine Einkaufsliste vor, sprach Sarah weiter: »Wenn du mich noch einmal schlägst, dann lasse ich dich zusammenschlagen. Du wirst dich selbst nicht mehr im Spiegel erkennen. Hast du mich verstanden, mein lieber Henry?«
Und als er nicht antwortete: »Dafür waren die zweihundert Euro. Ich habe einen Mann zum Essen eingeladen, der noch nicht einmal eine Hand benötigt, um dich zu züchtigen. Und wenn er mit seinen Kollegen kommt, kann er genüsslich zuschauen, wie du anschließend deine Zähne aufsammelst. Übrigens: Die Worte Moral, Achtung, Würde, Hemmung oder andere in der Art hat er noch nicht einmal gelesen.«
Den ganzen Tag gingen sie sich aus dem Weg. Sarah spürte seine Blicke, wie er ihr nachschaute. Sie hatte ihm eine Aufgabe gestellt, an der er zu knabbern hatte. Henry sprach kein Wort mit ihr. Als sie zwei Stunden später wieder ins Wohnzimmer kam, saß er nachdenklich im Sessel, das Kinn auf eine Hand gestützt und starrte den Teppich an.
»Entschuldige bitte Henry.« Sie trat zu ihm, drückte eine Falte aus dem Teppich, stellte sein Glas mittig auf den Untersetzer und diesen wiederum mittig auf den kleinen Beistelltisch.
Als erwache er, schaute er mit Augen, die nichts zu verstehen schienen.
»Achte doch auch bitte darauf, dass alles schön in Ordnung ist«, konnte sie sich nicht zu sagen verkneifen. »Und stelle später auch wieder den Sessel richtig an seinen Platz. Hörst du mir überhaupt zu?«
Henry nickte, ohne sie anzuschauen.
Sarah behandelte ihre Wange mit einem kühlenden Gel und mit Kosmetika, schminkte ihr Gesicht heller, zog sich kräftige Schuhe an und spazierte zuerst einmal eine Runde um das Grundstück. Die Hunde folgten ihr, drückten sich an ihre Beine, liefen um sie herum und waren erst zufrieden, nachdem sie ihre Streicheleinheiten hatten. Lange Zeit war auch sie zufrieden gewesen, weil Henry ihr die Streicheleinheiten gegeben hatte. Sie war Henrys Hund. Er hatte sie an die Leine gelegt. Und die Leine hieß Bequemlichkeit. Und Sicherheit und gesellschaftliche Anerkennung.
Sie spazierte zum Gästehaus mit dem Schwimmbad. Die Holzbretter an den Giebelseiten müssten auch wieder mal gestrichen werden, überlegte sie. Und die Scheiben des Schwimmbades waren angelaufen und voller Schlieren. Wenn das Henry sehen würde!
Auch heute ertappte sie sich dabei, dass sie sich auf vollkommen unnütze Dinge konzentrierte, um sich von anderen Situationen wie der vorherigen abzulenken. Je länger ihr das gelang, desto weniger dramatisch sah sie das Vorgefallene, desto eher war sie bereit, es zu entschuldigen und Kompromisse zu schließen. Bisher, genauer gesagt bis vor einer Woche, milderte sie auf diese Art subjektiv ihre schlimmen Empfindungen. Aber eines hatte sie nicht verhindern können, dass sie seit annähernd zwei Jahren mehr und mehr ihre Ehe und ihre Gefühle in Frage stellte. Eine Ehe, die nur noch auf dem Papier existierte. Und Gefühle, die überhaupt nicht mehr existierten. Und war sie an diesem Punkt ihres Eingeständnisses angelangt, tauchte unweigerlich die Frage auf: Warum bleibst du noch bei ihm? Warum löst du dich nicht, beginnst ein neues Leben? Und weil sie auch heute auf diese Frage keine Antwort fand, lenkte sie sich ab, schaute nach oben, beobachtete ungemein interessiert die filigranen Schleierwolken und das klare Blau des Himmels, welches in seiner Reinheit Ruhe ausstrahlte und majestätisch wirkte.
Sarah ging weiter zur Burg, stieg die enge Treppe hinauf bis auf den höchsten Punkt. Die Stadt Saarburg lag ihr zu Füßen, so wie Henry ihr einmal zu Füßen gelegen hatte, bis sie einwilligte, seine Frau zu werden. Sie umrundete den kleinen Turm mit dem Schieferdach und suchte einen bestimmten Stein. Genau an der Stelle, von der man ihr Haus sehen konnte, hatte Henry vor Jahren ihren Namen in den Schiefer geritzt. Sarah entdeckte ihn, zwar leicht verwittert, aber immer noch deutlich lesbar. »Sarah« stand dort, daneben ein Datum, der zwölfte Juni. An einem zwölften Juni hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Damals schrieb sie Henrys sexuelles Verlangen seiner Verliebtheit zu. Einer Verliebtheit, die dazu führte, dass er mehrfach mit ihr schlief und sich in eine Art Ekstase hineinsteigerte. Heute wusste sie, es war keine
Weitere Kostenlose Bücher