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Das Erwachen

Das Erwachen

Titel: Das Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Horwood
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Eindruck. Einen respekteinflößenden, zielstrebigen. Thwarts erster Impuls war sonderbarerweise, die große Tür wieder zuzusperren, die Riegel vorzulegen, die Fenster zu schließen und aus seinen Kollegen eine Armee zu formieren, um, so kümmerlich und schwach diese auch sein mochte, die Bücher und Urkunden zu verteidigen, deren Bewahrung und Schutz ihre Lebensaufgabe war.
    Was ihm diesen sonderbaren Gedanken eingab, vermochte er nicht zu sagen, und natürlich setzte er ihn nicht in die Tat um.
    Stattdessen ging er wieder hinein, wie er es immer tat, nur diesmal mit klopfendem Herzen und einem Gefühl tiefen Unbehagens. Sein Weg führte an den traurigen Lesern vorbei, die gerade ihre gewohnten Plätze einnahmen, und an der leeren Dienststube des Meisterschreibers. Thwarts Kollegen gingen bereits geschäftig ihren Pflichten nach, doch als er zwischen Bücherregalen hindurch von Raum zu Raum eilte und dann die Treppe hinab in das Untergeschoss, in dem er arbeitete, kam er sich vor wie jemand, der etwas verloren hatte, aber nicht wusste, was.
    »Ein regnerischer Morgen, Bibliothekar Thwart!«, sagte Slew, als er wenig später die Treppe herunterkam. »Ich habe meine Kutte neben dem Eingang aufgehängt, aber verzeihen Sie, dass ich meinen Knüppel mitgebracht habe. Er ist mir teuer, und wie ich gehört habe, treiben sich hier Diebe herum.«
    Der Knüppel war nass wie Slews Haar.
    Er wirkte im Keller fehl am Platz. Er lehnte an der Tür, und Wasser tropfte von ihm auf die alten Fußbodenfliesen wie Tränen.
    »Nun, ich ...«
    Slew trat auf Thwart zu und blieb groß und breit vor ihm stehen. »Speisen und Getränke sind verboten, aber Knüppel meines Wissens nicht, oder?« Er lachte.
    Thwarts Unbehagen wuchs.
    Umso mehr, da die Jacke, die Bruder Slew unter seiner Kutte trug und die ihm nun erstmals zu Augen kam, aus bestem schwarzem Leder bestand und so gearbeitet war, dass sie auf eine befremdliche Weise schimmerte oder glänzte. Sie war schwer zu erkennen und verlieh Slew etwas so Einschüchterndes, dass Thwart nicht in seiner Nähe verweilen wollte.
    »Nein ... ich glaube ... vorausgesetzt, Ihr nasser Knüppel ... ich meine ...«
    »Ich werde darauf achten, dass kein Wasser an unsere Bücher kommt«, sagte Slew, die Liebenswürdigkeit in Person. Er zog die Lederjacke aus, unter der ein gewöhnliches Wams zum Vorschein kam. »So ist es besser. Es ist warm hier unten.«
    Es war besser.
    Bruder Slew schien plötzlich ganz der Alte zu sein.
    »Nun, ich muss wieder an die Arbeit«, sagte Thwart, weniger gesprächigals sonst. »Sie wohl auch, wie ich mir denken könnte. Ich nehme an, Ihre Tage in Brum neigen sich dem Ende zu?«
    Er hatte keine Ahnung, wie er auf diese Frage kam, und Slew auch nicht.
    Slew stutzte. Offenbar freute sich Thwart nicht so wie sonst, ihn zu sehen. Nun gut, er konnte so verdrießlich sein, wie es ihm beliebte. Slew hatte nicht die Absicht, noch lange hier zu verweilen.
    »Ja, ich reise bald ab – die grüne Straße ruft!«
    »Wenn Sie Hilfe brauchen, Bruder Slew ...«
    »Dann wende ich mich an Sie, danke. Ich könnte dasselbe sagen, denn heute dürfte viel Arbeit auf Sie zukommen ... Der Regen – und Master Brif ist nicht da, nicht wahr?«
    Slew war gut, aber nicht perfekt. Selbst ein Schattenmeister musste noch lernen. Er hätte die Bemerkung über Brif nicht in eine Frage kleiden sollen. Thwart mochte ein Schwächling sein, aber dumm war er nicht.
    Slew sah ihm nach, als er an seine Arbeit zurückkehrte. Dann stand er auf und sog mit finsterer Miene die Luft ein.
    Der Stein war hier irgendwo. Er spürte es, auch wenn er ihn nicht richtig riechen konnte.
    Er ging hinüber zu Storts Platz, auf dem er noch nie gesessen hatte, und setzte sich.
    »Wo hast du ihn versteckt, Gelehrter?«, murmelte er und nahm die unordentlichen Papierstapel und die Fächer über Storts Pult in Augenschein. »Wo ist er? Hier nicht, so viel ist sicher. Er ist hinter Schloss und Riegel, er ist in einem Buch, wenn auch in keinem, das ich mir bestellt habe. Und wohl auch in keinem anderen, das sich mit dem Sommer oder dem Frühling beschäftigt. Das wäre zu naheliegend. Aber er ist hier. Irgendwo hier unten ...«
    Er erhob sich, ging mit zusammengekniffenen Augen auf und ab, blickte zu den verrosteten alten Gittertüren, die den Zugang zu mehreren kurzen Korridoren versperrten. Sie waren eigentlich nichts weiter als Kellerräume, in denen alte Bände verwahrt wurden. Wäre er Stort persönlich begegnet, so hätte er

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